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Locke Lamora ist ein begnadeter Lügner, ein Schauspieler, der in nahezu jede Rolle schlüpfen kann, ein brillanter Denker, ein meisterhafter Dieb - und ein Gentleman. Er ist der
garrista, der Anführer der Gentlemen-Ganoven, einer kleinen Bande von Dieben, die zwischen den unzähligen anderen größeren und erfolgreicher scheinenden Banden des Herzogtums Camorr gar nicht auffällt. Doch klein und unbedeutend sind die Gentlemen-Ganoven keineswegs, vermutlich sind sie sogar reicher - auf jeden Fall allerdings kreativer und waghalsiger - als alle anderen Banden. Sie hüten sich nur davor, dies auch zu zeigen oder damit zu prahlen. Denn ihr großer Reichtum stammt aus den Kassen der Adligen von Camorr, die sie eigentlich nicht antasten dürfen. Dies besagt der Geheime Friede, ein Abkommen zwischen dem Capa Barsavi, dem Oberhaupt aller Verbrecher Camorrs, und den Adligen sowie der Stadtwache. Letztere mischen sich nicht in die Angelegenheiten der Verbrecherbanden ein, lassen sie gewähren unter der Bedingung, dass sie nur einfache Leute und Fremde bestehlen.
Verstößt jemand gegen den Geheimen Frieden, droht ihm der Tod. Doch Locke Lamora ist gerissen, dank seiner raffinierten Coups nehmen die Gentlemen-Ganoven einen Angehörigen der Oberschicht nach dem anderen aus, ohne dass es jemand bemerkt.
Aber seine Glückssträhne findet ein jähes Ende, als wie aus dem Nichts der Graue König auftaucht, ein geheimnisvoller, schier unbesiegbarer Mann, der Camorr an sich reißen will und eine Spur von Leichen hinterlässt. Er wird auf Locke aufmerksam und benutzt ihn, um der neue Capa Camorrs zu werden. Locke und seine Bande ahnen nicht, welche Konsequenzen dies haben wird ...
Locke Lamora ist wohl der sympathischste Dieb seit Robin Hood, auch wenn Locke weitaus weniger moralisch ist und nicht im Traum daran denkt, das von den Reichen erbeutete Geld den Armen zu geben. Trotz gewisser Charakterschwächen kommt der Leser einfach nicht umhin, Locke zu mögen, denn Scott Lynch hat mit dieser Figur einen genialen, interessanten und bewundernswerten Antihelden geschaffen.
Auch sein Entwurf des Stadtstaats Camorr ist faszinierend und sehr plastisch. Eine Stadt, die nicht nur aufgrund der vielen Wasserstraßen ein wenig an Venedig in Zeiten der Renaissance erinnert. Eine Stadt, die dreckige, gefährliche Bezirke ebenso beherbergt wie luxuriöse Viertel, die Gaunern, Prostituierten und Mördern ebenso ein Heim ist wie Bänkern, Alchemisten und Adligen. Da Locke sich in beiden Welten bewegt, der Unterwelt und der Welt des Prunks und des Geldes, lernt man auch beide gut kennen und gewinnt so ein sehr vollständiges Stadtbild.
Der Grundtenor der Geschichte ist anfangs recht locker und kurzweilig, wird aber zunehmend düsterer, besonders nach Erscheinen des Grauen Königs. Gleichermaßen schraubt sich die Spannung hoch, bis es letztlich zum Showdown kommt. Trotz der Länge des Buches kommen erstaunlicherweise nie Durststrecken auf, in denen die Handlung im Sande verläuft oder der Autor sich in langweiligen Details verliert. Die Seiten fliegen nur so dahin, was sicher auch Lynchs großem Erzähltalent zu verdanken ist.
Die Erzählung verläuft anachronistisch, immer wieder lässt Lynch einige Zwischenspiele einfließen, die aus der Vergangenheit der Gentlemen-Ganoven, besonders aus ihrer Ausbildung und ihrer Kindheit, erzählen, oder auch kleine Anekdoten aus der Geschichte Camorrs. Meist passen diese Einschübe aber wunderbar in den Kontext der Haupthandlung, ergänzen und bereichern diese, verleihen den Figuren mehr Facetten und lassen erahnen, dass es da noch so einiges aus dem Leben der Gentlemen-Ganoven zu erfahren gibt.
Einige Kritikpunkte gibt es an diesem wunderbaren Debüt von Scott Lynch dennoch: Zum einen wäre da die Unverwüstlichkeit Lockes, der im Laufe der Geschichte viel aushalten muss, aber immer wieder aufsteht und handelt, obwohl er - ein eigentlich sehr schmächtiger, schwächlicher Kerl - fast tot sein müsste. Störend ist bisweilen auch die inflationär verwendete Fäkalsprache, das Fluchen und Beleidigen, das gerade bei einem
Gentleman-Gauner doch unpassend wirkt. Hier fragt man sich, ob Lynch nicht ein wenig übertreibt; starke Emotionen und Milieusprache hätte man auch dezenter verdeutlichen können.
Die wenigen Schwächen können aber nicht über das immense Potenzial der innovativen, spannend erzählten Story hinwegtäuschen. Hier liegt eine gelungene Abenteuergeschichte vor, die mit wenigen phantastischen Elementen wunderbar auskommt, die Witz und Cleverness aufweist und auch einige tiefsinnige Momente birgt, besonders wenn es um Rache, Vergeltung, Verantwortung und um Sieg und Niederlage geht.
Man darf gespannt sein, ob Scott Lynch es schafft, den Leser in weiteren sechs Bänden ebenfalls in seinen Bann zu ziehen.