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Schaltet man am späten Nachmittag oder frühen Abend ins Privatfernsehen, staunt man teilweise nicht schlecht, wenn dort Familienhelfer und "Super Nannys" Problemfamilien besuchen. Zu sehen sind häufig Kinder, die kreischen, ihre Eltern wüst beschimpfen und um sich schlagen, und Eltern, die zurückbrüllen, Türen knallen oder bereits resignieren. Die Situation der Kinder- und Jugenderziehung in Deutschland wird derzeit heiß diskutiert; angeheizt wird diese Diskussion durch medienwirksam aufbereitete Berichte eskalierender Jugendgewalt oder durch immer neue Statistiken von Defiziten, die unsere Kinder aufweisen - psychisch, sozial und körperlich. Doch wodurch sind unsere Kinder "so" geworden?
Der Autor Michael Winterhoff, selbst Kinder- und Jugendpsychologe, will seine Ausführungen zu diesem Thema in "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" keinesfalls als pädagogischen Ratgeber und damit als Leitfaden aus der Misere verstanden wissen. Vielmehr legt er sein Hauptaugenmerk auf den Bereich der kindlichen Psyche und deren Entwicklung. "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" ist also kein pädagogisches Buch, sondern vorrangig ein psychologisch orientiertes.
Beinahe schon reflexartig sucht die heutige Gesellschaft bei kindlichem Fehlverhalten oder jugendlicher Kriminalität nach den sozialen Ursachen - soziale Kälte, Verwahrlosung und allgemein das gesellschaftliche und erzieherische Umfeld werden schnell verantwortlich gemacht, wenn etwas aus dem Ruder läuft. In dieses Bild passt es dann nicht, wenn auch Kinder "aus gutem Hause", die Bildung und auch liebevolle Zuwendung durch die Eltern erfahren haben, gleichfalls aus der Rolle fallen, im Extremfall sogar Amok laufen. Der Autor argumentiert von diesem Punkt ausgehend, dass rein pädagogische Ansätze nicht hilfreich sein können, wenn die Psyche von vielen Kindern und Jugendlichen heute auf einem derart defizitären Entwicklungsstand stehen geblieben ist, dass Wertigkeiten wie "richtig" und "falsch" gar nicht erst verstanden werden.
Eine Erziehungsresistenz ist nach dieser Argumentation nicht oder nicht nur auf ein mangelhaftes soziales Umfeld zurückzuführen, sondern vor allem auf eine psychische Unreife der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Eine Reihe von kleinen Fallbeispielen aus dem Alltag von Kindergarten- und Schulkindern illustriert im Buch dieses unreife Verhalten und zeigt, dass die jeweiligen Entwicklungsphasen der Kinder von den Eltern kaum kindgerecht berücksichtigt werden. Die Psyche der Kinder kann sich nicht adäquat entwickeln, was später zu schwerem Fehlverhalten führen kann.
Winterhoff argumentiert im Folgenden sogar weiter, dass die Gesellschaft längst jedes Gefühl dafür verloren habe, was tatsächlich "normal" sei, dass sich die Maßstäbe für normales Verhalten bedenklich verschoben hätten und dass die Erwachsenen als Folge daraus falsch handeln, weil sie ihren Kindern selbst kein normales Verhalten vorleben und beibringen können. Die Anforderungen an Kinder würden heute infolge der zahlreichen Defizite einfach immer nach unten geschraubt.
Winterhoffs Argumentation und Denkansätze sind zwar durchaus interessant, zumal sie die Kinder in unserer Gesellschaft eben aus einem anderen Blickwinkel betrachten, als dies die "Super Nannys" und anderen selbsternannten Erziehungsgurus im TV tun. Allerdings stößt unangenehm auf, dass der Autor seine Denkweise als einzig richtige zu erachten scheint, wie auch aus dem Satz
"Mein Ansatz ... ist die einzige Möglichkeit, diesen Trend sinnvoll zu analysieren und Strategien zu entwickeln ..." deutlich wird. Die Erkenntnis, dass die antiautoritäre Erziehung der 68er sich in späteren Jahren quasi verselbständigte und der Schuss teilweise böse nach hinten losging, ist natürlich nicht neu. Ebenso dürften viele Leser der Erkenntnis zustimmen, dass Kinder Grenzen und Regeln benötigen, dass sie keine kleinen Erwachsenen sind und dass die Beziehung von Eltern und Kindern keine partnerschaftliche ist. "Neu" ist bei Winterhoff, dass er Kinder als formbar ansieht und ihnen in jungen Jahren eine eigene Persönlichkeit völlig abspricht - gerade letztere These dürfte bei vielen Lesern für einige Empörung sorgen.
Das Buch ist vom Tenor her von einem sehr negativen Bild unserer Gesellschaft geprägt, so dass nach längerer Lektüre echte Weltuntergangsstimmung aufkommt und man sich schon bang fragt, wann unsere Gesellschaft denn nun untergeht. Stilistisch ist das Werk leider kein großer Wurf, es ist ziemlich populistisch geschrieben, die Kapiteleinteilung mutet beliebig an, und sogar die eigentlich interessanten Fallbeispiele bleiben seltsam beliebig und recht reißerisch - nicht unbedingt das, was man von einem Psychologen mit jahrzehntelanger Berufserfahrung erwarten würde.
Hinzu kommt: Wissenschaftlich fundiert ist dieses Buch nicht, dazu fehlen auch sämtlich Belege und Quellen; immerhin kann es in einer aktuell hitzig geführten Diskussion einige Denkanstöße bieten. Winterhoff berichtet schlussendlich ausschließlich von der Warte seines persönlichen Erfahrungsstandes und seiner Berufspraxis aus, ohne dabei allgemeinere oder wissenschaftlich relevante Informationen zu liefern. Dies bleibt dem Leser auch stets bewusst, da Winterhoff gerne aus der Ich-Perspektive schreibt und es dadurch stets klar bleibt, dass es sich hier um weitgehend subjektive Erfahrungen handelt.
"Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden" ist damit zwar ein recht interessanter Diskussionsanstoß, verbleibt aber dennoch stets auf dem Niveau rein subjektiver Erfahrungen eines einzelnen Psychologen. Dass auch Winterhoff im Endeffekt auf der Trendwelle derjenigen mitschwimmt, die derzeit verzweifelt die Antwort auf die Frage suchen, was Eltern, Lehrer, Kinder oder "die Gesellschaft" falsch gemacht haben könnten, wird eigentlich schon aus dem reißerischen Titel deutlich. Als Denkanstoß sollte das Buch demnach auch gelesen werden - und nicht als Lösung, nicht als tatsächliche Beantwortung der Frage "Warum werden unsere Kinder denn nun Tyrannen?".