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Ein Fluch liegt auf dem Land Skala, seit König Erius unrechtmäßig die Krone an sich gerissen hat. Nur die Ankunft einer prophezeiten Königin aus der alten Adelslinie kann das Reich erlösen, heißt es. Rücksichtslos lässt Erius deshalb sämtliche weibliche Verwandten ermorden und schreckt dabei selbst nicht vor den Kindern seiner eigenen Schwester zurück. Um deren neugeborene Tochter zu schützen und so die Erfüllung der Prophezeiung herbeizuführen, wagt eine Gruppe Zauberer deshalb das Undenkbare: Sie ermorden den Zwillingsbruder des jungen Mädchens gleich nach der Geburt und hüllen es mit einem düsteren Ritual in dessen Gestalt. Doch etwas geht dabei schief: Die Seele des ermordeten Säuglings findet keine Ruhe und wandelt als dämonischer Geist an der Seite seiner Schwester, ohne dass diese ahnt, was tatsächlich geschehen ist oder dass sie in Wirklichkeit eine Frau ist. Schwere Jahre liegen vor dem Kind, dem Gefahr droht durch einen tyrannischen König, einen gefährlichen Geist und eine Mutter, die über die schrecklichen Ereignisse bei der Geburt ihrer Kinder den Verstand verloren hat. Das schwierigste für Tobin ist es allerdings, Freunde zu finden, die sie verstehen - und herauszufinden, wer sie ist.
In neuer, gelungener Übersetzung präsentiert der Otherworld Verlag mit "Der verwunschene Zwilling ein wahrhaftiges Meisterwerk der Fantasy, das vor fünf Jahren im Bastei Lübbe Verlag bereits einmal unter dem leider sehr unpassenden Titel "Das Orakel von Skala hierzulande veröffentlicht wurde und unverdienterweise nicht den erwarteten Erfolg ernten konnte. Ob das nun am Marketingkonzept oder an etwas anderem lag, ist schwerlich nachzuvollziehen, fest steht nämlich, dass der Auftaktband der Tamír-Trilogie zu den besten Fantasy-Werken gehört, die jemals geschrieben wurden. Wenn ein George R. R. Martin sagt, er konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, und auch weitere international erfolgreiche Fantasy-Autorinnen wie Robin Hobb oder Anne Bishop - um nur einige wenige zu nennen - voll des Lobes für dieses Buch sind, dann übertreibt keiner von ihnen, sondern trifft genau ins Schwarze.
Lobenswert auch, dass der Otherworld Verlag dem Buch sowohl zwei neue Landkarten der Welt von Skala mitgegeben hat als auch ein Personenregister, welches jenen Lesern helfen kann, die Schwierigkeiten haben, sich in einem Roman mit einer Vielzahl von Charakteren zurecht zu finden.
Vom eher schlichten, aber stimmigen Cover sollte man sich nicht täuschen lassen: "Der verwunschene Zwilling ist düstere Fantasy mit grandios gezeichneten Charakteren und Tiefgang, wie man ihn leider viel zu selten findet. Die Handlung trifft den Leser direkt ins Herz und trotz des Themas der Erzählung vergisst Lynn Flewelling nie, in erster Linie eine mitreißende Geschichte zu erzählen. Damit hat sich die Autorin nicht nur an eine gehaltvolle Thematik herangewagt, sondern auch einen der außergewöhnlichsten Fantasy-Romane der letzten Jahre abgeliefert.
Geradezu süchtig macht der Roman, den man weder so schnell zur Seite legen kann, noch so schnell vergisst. Vor allem, weil das offene Ende des Buchs neue Leser mit Sicherheit schockt und sprachlos lässt. Beruhigenderweise ist der zweite Band der Trilogie bereits für Anfang 2009 vorangekündigt. Trotz der vorherrschenden düsteren Atmosphäre ist das Buch vor allem eins, und zwar ergreifend. "Der verwunschene Zwilling erzählt die Kinderjahre eines seltsamen, aber äußerst liebenswerten Jungen, der nichts davon ahnt, dass er in Wirklichkeit ein Mädchen ist und nur durch gefährliche Blutmagie dem Anschein nach das Aussehen seines ermordeten Zwillingsbruders besitzt, welcher wiederum als rastloser Dämon ein unsichtbares, aber nicht unbemerktes Nach-Leben an seiner Seite fristet. Ohne auf das Niveau eines 08/15-Horror-Romans herabzusinken, jagt die Geschichte dem Leser immer wieder einen Schauder über den Rücken mit seinen gefährlichen Geister-Erscheinungen und düsteren wie erschreckenden Momenten.
Die große Stärke von Lynn Flewelling sind allerdings ihre lebendigen Charaktere. Sowohl ihre Pro- als auch ihre Antagonisten sind detailliert ausgearbeitet. Schwarzweiß-Malerei gibt es nicht, die Grenzen zwischen "gut und "böse sind fließend. Ist eine Mutter, die durch die Ermordung ihres neugeborenen Sohnes in den Wahnsinn getrieben wurde, tatsächlich böse? Kann eine Zauberin, die zur Erfüllung hehrer Ziele zu kompromisslosen Methoden greift, ruhigen Gewissens weiterleben? Was passiert, wenn ein junger Mensch aus gesellschaftlichen Konventionen ausbricht auf seiner Suche nach der eigenen Identität? Wie tief geht Freundschaft wirklich? Wie viel ist ein Mensch bereit zu verzeihen? Was kann er verkraften? Das sind die Leitmotive eines fesselnden Romans, der seinesgleichen sucht.
Ob man Tobins Geschichte nun als Transgender-Metapher liest oder als Weg eines jungen Menschen, zu sich selbst zu finden, bleibt jedem selbst überlassen. Kalt wird die Geschichte wohl keinen lassen, der sich darauf einlässt. Besser kann man nicht schreiben!