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"Die Bibliothek von Babel" ist eine Sammlung phantastischer Literatur in dreißig Bänden, herausgegeben von Jorge Luis Borges. Band 22 dieser Sammlung beschäftigt sich mit "Russischen Erzählungen" von Leo Tolstoi, der unter anderem durch sein Meisterwerk "Krieg und Frieden" berühmt wurde, Fjodor M. Dostojewski, der mit seinen psychologischen Romanen die russische Literatur prägte, und Leonid N. Andreev, dessen Werke stets einen sarkastisch-resignierenden Grundtenor tragen. Die drei Erzählungen beschäftigen sich primär mit dem Verhältnis des Menschen zum Tod, das hier auf groteske Weise beleuchtet wird.
In der ersten Geschichte, Dostojewskis
"Das Krokodil", geht es um einen Beamten, der mit seiner Frau und seinem Hausfreund ein lebendiges Krokodil besichtigt, das ein Deutscher als Attraktion ausstellt. Unglücklicherweise kann das Krokodil, Karlchen ist sein Name, ausbrechen und den Beamten fressen. Dieser ist danach keineswegs tot, er lebt im Magen des Krokodils weiter und plaudert von dort aus schon bald - mehr oder minder munter - mit seinem Hausfreund. Aufschneiden kann man das Krokodil natürlich nicht, schließlich ist es nun eine noch größere Attraktion und damit auch noch viel mehr wert ...
Anschließend wird die Geschichte
"Lazarus" von Andreev erzählt. Lazarus hat dem Tod bereits ins Auge gesehen - er ist gestorben. Doch er wird von Jesus wiedererweckt. Leider muss er feststellen, dass sein Leib aufgebläht ist, die Haut teilweise aufgeplatzt, die Finger sind blau mit langen Nägeln. Einiges davon heilt wieder, auch der Gestank nach Fäulnis vergeht. Aber Lazarus’ Äußeres und auch sein Wesen haben sich verändert. Schon bald wenden sich alle Menschen von ihm ab, sogar seine Familie, denn sie können die Anwesenheit des lebenden Toten nicht ertragen.
Den Abschluss bildet die Erzählung
"Der Tod des Iwan Iljitsch" von Leo Nikolajewitsch Tolstoi. Es geht hier um das Leben, den Tod und die Trauerfeier des Iwan Iljitsch Golowin, eines russischen Gerichtsbeamten, der im Alter von 45 Jahren stirbt. Erst auf dem Sterbebett reflektiert Iljitsch sein Leben, erkennt die Sinnlosigkeit darin, bereut immer den Weg des geringsten Widerstands gegangen zu sein. So hat er sein Leben verschwendet und kommt erst kurz vor dem Tod zu einer Einsicht.
Seltsam heiter ist der Grundtenor der ersten Geschichte, die groteske Geschichte vom Mann im Krokodil wird auf munter-ironische Weise erzählt. Dabei schafft es Dostojewski, immer wieder komische, aber durchaus ernst gemeinte Seitenhiebe auf den langsam in Russland Einzug haltenden Kapitalismus anzubringen, ganz besonders deutlich wird dies in der Figur des deutschen Krokodilbesitzers, aber auch in der des Beamten - beide sind relativ lächerliche, überzeichnete Figuren, passen aber so perfekt in die Geschichte, die bisweilen wie eine in Worte gefasste Karikatur wirkt.
Nicht nur der Kapitalismus, auch der utopische Sozialismus wird im weiteren Verlauf der Handlung kritisiert, ebenso andere Themen, die in Russland zur Zeit Dostojewskis von Bedeutung waren - hier ist durchaus Kenntnis der russischen Geschichte gefragt, ansonsten kann es passieren, dass man den Subtext der Erzählung nicht versteht und lediglich den Kopf schüttelt angesichts der makabren Handlung.
Die zweite Erzählung ist düsterer, melancholischer und nicht ganz so überdreht. Hier fällt das Suchen nach dem Sinn, der Aussage der Erzählung schwierig, insbesondere weil "Lazarus" den Leser teilweise wirklich deprimiert zurück lässt, sodass man keine Muße hat, sich eingehender mit der Kurzgeschichte zu beschäftigen. Sprachlich jedoch ist das Werk eine Glanzleistung, mittels weniger Worte schafft Andreev Atmosphäre und Intensität.
Besser verständlich und zugänglicher ist die letzte Geschichte, wenngleich sie aus dem Grund aus dem Rahmen fällt, weil sie eigentlich keine phantastischen Elemente birgt.
Auf mal verstörende, mal aufgrund humoristischer Einschübe unterhaltsame Weise wird die Angst vor dem Tod und vor dem Scheitern in der Gesellschaft thematisiert. Mit psychologischer Tiefe und sprachlicher Kraft schildert Tolstoi die Gedanken eines Menschen, der weiß, dass er bald sterben wird. Aber eigentlich ist dies keine Geschichte über den Tod, auch wenn es um den Leidensweg eines Sterbenden geht, sondern eine Erzählung vom Leben, ein Aufruf, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Kaum ein besseres Werk wird man zu dieser Thematik finden können. Um Tolstois Genie zu begreifen, muss man nicht seine epischen Wälzer lesen, allein diese Erzählung bietet eine gute Erklärung, warum er einer der bekanntesten russischen Autoren geworden ist.
Diese drei Geschichten sind keine leichte Kost für Leser, die sich mit russischer Literatur und Geschichte noch nie oder kaum auseinander gesetzt haben. Auch weil sich hier drei verschiedene Autoren unter ganz unterschiedlichen Aspekten mit einem schwierigen Thema, das nicht jedem behagt, auseinander gesetzt haben: mit dem Tod. Wer jedoch weiß, worauf er sich mit den "Russischen Erzählungen" einlässt, dem wird eine anspruchsvolle, zum Nachdenken anregende Lektüre geboten.