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Erkrankungen der Psyche sind für die meisten Menschen rätselhaft, oft auch verstörend, wenn sie im Bekanntenkreis oder gar in Familie und Partnerschaft auftreten. Zu erkennen, woran der andere Mensch (oder man selbst) leidet - und dass überhaupt eine womöglich behandlungsbedürftige Störung vorliegt -, ist indes für den Laien sehr schwierig.
Die Autorin Laura James hat auf originelle Art Steckbriefe zumeist recht verbreiteter psychischer Erkrankungen erstellt: Ihr Buch "Tigger auf der Couch" besteht aus Fallstudien zu Figuren aus der Kinderliteratur, denen man ebendiese Probleme zuweisen kann. Die Einleitung informiert über die Intention des Buchs und darüber, wie es zustande kam. Es folgen die so genannten Patientenakten.
Man findet im Buch Patientenakten aus folgenden "Welten": Wunderland, Hundert-Morgen-Wald (Pu der Bär), Nimmerland (Peter Pan) und Oz. Mehrere Figuren aus jeder dieser Märchenwelten werden untersucht, so aus dem Hundert-Morgen-Wald Tigger, Pu der Bär, I-Ah und Ferkel. Zudem betrachtet die Autorin jede der Welten im Überblick.
Auch das Wartezimmer ist brechend voll; hier findet man einzelne Figuren aus Märchen und Erzählungen für Kinder. Im Wartezimmer sitzen beispielsweise Aschenputtel, Blaubart, Peter Hase, Cruella de Vil (101 Dalmatiner) und Pippi Langstrumpf.
Folgende Punkte werden in den Patientenakten aufgeführt und je nach Priorität mehr oder weniger ausführlich diskutiert: Diagnose, Auftreten und Verhalten, Ernährung, familiärer Hintergrund - bei den wenigsten Figuren feststellbar -, Anmerkungen über den Patienten, Fakten zur jeweiligen Störung, Prognose und Behandlung.
An jede Patientenakte schließt sich eine Übung an, die dem Leser ermöglicht, die auffälligsten Kennzeichen der besprochenen Erkrankung auch im persönlichen Umfeld und nicht nur in Märchen zu erkennen.
Die "Macken" der von Kindern und auch vielen Erwachsenen innig geliebten oder gehassten Figuren sind vielseitig. Laut Laura James leidet Tigger an ADHS, also einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, wobei er der vorwiegend hyperaktiven Variante zuzuordnen ist, während Pu der Bär dem unaufmerksamen Typus mit dieser Störung zuzuordnen ist. I-Ahs Problem ist seine chronisch depressive Verstimmung, und auch Ferkels generalisierte Angststörung sollte ernst genommen werden.
Außerhalb des Hundert-Morgen-Waldes geht es ebenfalls hoch her mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, Co-Abhängigkeit, Narzissmus in diversen Varianten, traumatisch bedingter Nervenzerrüttung, antisozialer Persönlichkeitsstörung und vielem mehr.
Die verschiedenen Krankheiten werden anhand der oft geradezu idealen Beispiele aus der Kinderliteratur gut verständlich vorgestellt. Dass dieses humorvoll verfasste, kurzweilige Buch trotz seines grundsätzlichen Sachbuchcharakters viel Unterhaltung bietet und natürlich keinen exzessiven Tiefgang hat, dürfte sich von selbst verstehen. Der ernste Hintergrund bleibt jedoch stets unübersehbar, denn während es in der Realität vielleicht keinen Blechmann wie im "Zauberer von Oz" gibt, so doch definitiv die von ihm repräsentierte schizoide Persönlichkeitsstörung. Und es kann, wie auch in den Abschnitten "Prognose" und "Behandlung" aufgeführt, durchaus nützlich sein, den Blick für Symptome beziehungsweise auffällige Verhaltensweisen zu schärfen.
Wer sich über einzelne Störungen genauer informieren möchte, kann sich im Anhang Tipps zu weiterführender Literatur holen, und es werden auch Adressen von Organisationen und Selbsthilfegruppen angeboten.
"Tigger auf der Couch" ist ein reizvoll aufgemachtes Buch, das einen interessanten Einblick in die Psychotherapie bietet, und dies anhand zumeist bemerkenswert typischer, praktisch jedem Leser bekannter Fallbeispiele. Originelle, unterhaltsame und dabei sehr informative Lektüre!