Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Bildqualität | |
Brutalität | |
Gefühl | |
Humor | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
Europa hat sich in den vergangenen Jahren beständig nach Osten erweitert; 2004 traten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien der Europäischen Union bei, 2007 Bulgarien und Rumänien. Martin Pollack, der Autor, Übersetzer und Journalist ist, setzt sich mit dieser neuen Peripherie Europas literarisch auseinander, mit deren Geschichte und den Umwälzungen der Wendezeit um 1990. In seinem aktuellen Buch "Warum wurden die Stanislaws erschossen?" werden jene Regionen und Bewohner aus den Randbereichen Europas in die Mitte gerückt, wo sie noch lange nicht angekommen sind, von der sie noch durch Geschichte und Lebensbedingungen getrennt sind. Das Ergebnis ist jene Pollack eigene Mischung aus Realität und Fiktion, aus betroffener Nähe und beobachtender Distanz.
Damit ist auch schon ein Grundimpuls angesprochen, der in Pollacks Reportagen immer wieder erkennbar wird: die Geschichte, die Vergangenheit und die Verhältnisse zu erklären, das Schweigen zu brechen und das Unausgesprochene auszusprechen, wie es beispielsweise in "Zigeunerangelegenheit I-IV" geschieht. Dort werden jeweils die Gemeindechroniken von Goeberling, Grafenschachen, Loipersdorf i.B. und Neustift a.d.L. im Bezirk Oberwart im Burgenland zitiert und dabei das Verschwinden der Zigeuner aus der Geschichtsschreibung und damit aus der Gesellschaft dokumentiert. Es wird dargestellt, woran man sich statt der Zigeuner erinnert, das Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges, an die russischen Besatzungstruppen, an Schweine und Rinder, die durch Plünderungen verloren gingen. Über die Zigeuner wird lediglich vermerkt, dass viele von ihnen in Konzentrationslagern starben, andere aus den Gemeinden weggemobbt wurden. Immer wieder ist Martin Pollack in seinen Reportagen bemüht, Geschichte aufzubrechen. Die Figur Jacques Tüverlin in Lion Feuchtwangers Roman "Erfolg" spricht aus, was den Reportagen Martin Pollacks zugrunde liegt:
"Ein großer Mann, […] er heißt Karl Marx, meinte: die Philosophen haben die Welt erklärt, es komme darauf an sie zu ändern. Ich für meine Person glaube, das einzige Mittel die Welt zu ändern, ist, sie zu erklären." Auch Martin Pollack versucht zu erklären, um die geographisch periphär gelegenen Staaten auch aus ihrer Bedeutungsperipherie führen.
Dieses Vorgehen könnte nun ziemlich leicht in eine platte Auffassung von Geschichte und Gesellschaft führen, doch besitzen die Texte eine hohen Grad an Reflektiertheit. Beispielsweise wird in der Reportage "Jäger und Gejagter. Das Überleben der SS-Nr. 107 136" der ehemalige SS-Offiziers Rolf-Heinz Höppner erzählerisch seinem erbitterten Jägers Julian Leszcynski gegenüber gestellt. Es erfolgt keine explizite Wertung, und je mehr die Besessenheit Leszcynskis deutlich wird, umso mehr verschwimmt die Zuordnung von Jäger und Gejagtem. Noch deutlicher wird Pollacks Vorgehen in der "Bildergeschichte. Fotografische Fundstücke". Ausgehend von einigen Fotografien unbekannter Herkunft aus einem Wiener Antiquariat (die auch im Buch enthalten sind) wird über die "Fotografien und das Schicksal der darauf abgebildeten Menschen" spekuliert, nach und nach wird versucht, hinter die Bilder und zu deren Geschichte zu gelangen, doch scheitern die Erklärungsversuche. Immer sind es nur Mutmaßungen, Mutmaßungen über die abgebildeten Personen und Mutmaßungen über den Menschen, der diese Fotografien gemacht hat. Wie schon von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer oder Bertolt Brecht festgestellt haben, ist auch die Fotographie ein ungenügendes Darstellungsmittel.
Die Titel gebende Reportage über die beiden Stanislaws, zwei polnische Gastarbeiter, beide mit dem Namen Stanislaw, versucht zu ergründen, unter welchen Umständen die beiden von russischen Soldaten erschossen wurden. Doch auch Interviews mit Zeitzeugen bringen keine endgültige Klarheit und so bleibt am Ende wieder nur die Spekulation. Die Geschichte ist nicht rekonstruierbar, sie ist nur eine ungenügende Konstruktion. Doch immer wieder steht das Fragen am Anfang, eine neugierige Suche und auch wenn keine ‚Wahrheit’ ans Licht kommt, so wird doch ein Verstehen befördert, ein Verstehen, das Voraussetzung dafür ist, dass die ehemaligen Ostblockstaaten irgendwann auch in der Mitte Europas ankommen. Martin Pollack hat nach seinem bemerkenswerten Roman "Der Tote im Bunker - Bericht über meinen Vater" und der Sammlung polnischer Reportagen mit dem Titel "Von Minsk nach Manhattan" eine großartige Sammlung von Reportagen aus beinahe drei Jahrzehnten vorgelegt, die unbedingt lesenswert sind.