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Ivan Sergejevitch Turgenev gehört zu den bedeutendsten russischen Autoren, ist allerdings heutzutage nicht mehr so bekannt wie seine Kollegen Gogol, Tolstoi oder Dostojewskij. Dabei zeichnen sich auch seine Werke durch einen ungeschönten Blick auf die russische Gesellschaft, auf das Elend der Bauern und Arbeiter der damaligen Zeit aus, sodass man anhand dieser Literatur "das russische Herz verstehen lernen kann", so sagte Arthur Miller.
"Aufzeichnungen eines Jägers und andere phantastische Erzählungen" ist eine Sammlung von knapp dreißig Erzählungen des Autors, die erstmals 1852 erschien. Zwar geht es oft tatsächlich um die Jagd, den Wald und die Tiere, aber dies ist nur ein Rahmen, der die Geschichten zusammenhält und der dabei helfen sollte, die früher so strenge russische Zensur zu täuschen. Im Mittelpunkt stehen die Menschen, ihr Elend und ihr Leid, ihre soziale Lage und die Konflikte des Landes. Die Erzählungen, die allesamt nur wenige Seiten umfassen, werden aus der Ich-Perspektive eines adligen Erzählers geschildert, der durch das Land streift und dabei vielen unterschiedlichen Personen begegnet. Neben der Gesellschaftskritik kommen auch zahlreiche Naturbeschreibungen und vereinzelte phantastische Elemente vor, diese jedoch vor allem in den letzten fünf Erzählungen, die ursprünglich nicht im Sammelband "Aufzeichnungen eines Jägers" erschienen sind.
Wer sich mit klassischer russischer Literatur auskennt, der weiß vermutlich bereits, dass diese nicht immer leicht zu verstehen ist, sondern meist eine anspruchsvolle und teilweise sogar deprimierende Lektüre darstellt. Auch Turgenev bildet da keine Ausnahme. Das Leid und das menschenunwürdige Leben der Bauern, den Verfall der Sitten und der Moral des Landadels, die Schicksalsschläge einzelner Menschen erzählt Turgenev so eindringlich und realistisch, dass sie beim Leser einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Obwohl man an den detailreichen, lebendigen Beschreibungen der Landschaft Russlands, der liebevollen Schilderung der Eigenheiten der Bauern sowie der geschliffenen Sprache des Autors und dem sporadisch aufblitzendem Humor durchaus seine Freude haben kann, gehört "Aufzeichnungen eines Jägers" sicher nicht zur seichten Unterhaltungsliteratur. Man muss sich Zeit nehmen für dieses Werk, es in Ruhe lesen und reflektieren, zudem bietet es sich auch an, die russische Geschichte aufzuarbeiten, während man die "Aufzeichnungen" liest, um so die Intentionen des Autors besser verstehen zu können.
Die Übersetzung von Alexander Eliasberg hat bereits viele Jahre auf dem Buckel. Zwar gibt es glühende Anhänger der Neuübersetzung von Peter Urban, doch ist die alte Übersetzung fast noch zugänglicher, zumal sie nicht so "bemüht russisch" klingt, denn im Gegensatz zu Urban hat Eliasberg für viele russische Begriffe ein passendes deutsches Pendant gefunden, statt sie im Original zu belassen und mit zahlreichen Fußnoten zu erklären.
"Aufzeichnungen eines Jägers und andere phantastische Erzählungen" ist ein bedeutendes Stück russischer Literaturgeschichte. Turgenev zeichnet ein eindrucksvolles Bild der Landschaft und ein bewegendes Portrait der Bevölkerung. Er fängt die Eigenheiten der Bauern Russlands - die Unterwürfigkeit gepaart mit der gar nicht dazu passenden Sturheit beispielsweise - wunderbar ein, macht das Denken und Handeln, Freud und Leid der russischen Leibeigenen und Adligen begreifbar auch für Leser, die wenig mit dieser Kultur gemein haben.