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Die Erinnerungen von Oliver Sacks (weltberühmt geworden durch die Verfilmung seines Romans "Awakenings - Zeit des Erwachens" mit Robert de Niro) sind eine echte Überraschung. Der Arzt und Neurophysiologe schreibt mitnichten ein Medizin-Buch oder eine Geschichte seines Lebens (im herkömmlichen Sinn) sondern etwas ganz anderes:
Die Kindheit von Oliver ist reinste Chemie (oder Physik, da streiten sich seine Onkel vehement - für den Einen ist Chemie nichts als Physik, für den Anderen Physik eine reine Hilfswissenschaft für die Chemie).
Sein Onkel Wolfram (im Original Uncle Tungsten - eben das chemische Element Wolfram, ein seltenes Metall) - eigentlich Onkel Dave - ist ein Quell des Wissens für Oliver. Nichts interessiert ihn mehr als die Chemie der Stoffe:
Warum glänzen Metalle, warum hart, warum schwer, warum biegbar und nicht brechbar, warum erzeugen sie Töne, wie können zwei weiche Metalle ein härteres hervorbringen, warum glänzt Gold gelblich, warum lief es nicht an? Oder warum brennen Sonne und Sterne auf die gleiche Weise, warum gehen sie nicht aus und woraus bestehen sie?
Er war das jüngste Kind der beinahe Jüngsten (er war das vierte Kind seiner Mutter, die das 16. von 18 Kindern war). Sein Großvater mütterlicherseits stammte aus Russland, war aber als 16-jähriger geflohen (1853), um sich dem Dienst in der Kosakenarmee zu entziehen. Dort heiratete er seine ebenfalls erst 16-jährige "Jugendliebe". 1855 zogen sie nach England. Oliver hatte durch die großen Familien (seitens seines Vaters kamen noch welche hinzu) über 100 Cousins und Cousinen, so dass die Familienfeste einen "tribalistischen" Charakter annahmen. Für Oliver bedeutete das seit seiner frühen Kindheit in der Tradition seines Großvaters, eines Autodidakten und Gelehrten aus Leidenschaft, Fragen zu stellen, Naturwissenschaftler zu sein, so wie sie Juden und Engländer waren!
Ausführlich beschreibt er abseits seines wissenschaftlichen Werdegangs die Kriegszeit. Wohl auch, weil er in einer für ihn schrecklichen Privatschule kaserniert war und dort nahe dem psychischen Zusammenbruch vegetierte!
Doch in der Nachkriegszeit begannen seine "Forschungen" und "Versuche" (in einem kleinen Labor und mit Hilfe seiner Onkel).
Die weiteren Kapitel beschäftigen sich Schwerpunktmäßig mit den seines Werdegangs entsprechenden Interessen: dem Antimonit, der Produktion von Glühbirnen und Kaltlichtlampen, chemischen Experimenten ("Stinken und Knallen", das Periodensystem der Elemente, "Humphry Davy" und seine Experimente) und schließlich physikalischen Exkursen ("Kraftlinien", "Spektroskopie", "Kaltes Feuer", Röntgenstrahlen, Madame Corie und ihre Versuche).
Fünf Seiten vor Schluss des Buches (Seite 361) beschreibt Oliver Sacks das Ende seiner chemischen Leidenschaft. Kaum 20 Jahre alt wendete er sich anderen Interessen zu (so auch der Medizin), doch dass ist wohl Gegenstand eines zweiten Bandes seiner Autobiographie!
Wer eine Lebensgeschichte erwartet, könnte enttäuscht sein. Dies sind eher Erinnerungen und Anekdoten eines Menschen der Medizingeschichte geschrieben hat und einige sehr interessante Bücher aus seiner neurophysiologischen Praxis vorgelegt hat.
Dieses Buch jedoch schildert seine tiefste Verbundenheit mit der Chemie und ihren großen Forschern. Seine kindliche Begeisterung für ihre und vor allem für seine eigenen Versuche, den Dingen auf den Grund zu gehen -auf den chemischen Grund.
Seine Abhandlung liest sich spannend, zuweilen höchst vergnüglich, aber ohne Interessen für Chemie und Physik und ihre Heroen ist es zu informativ, zu sehr Wissenschaftsgeschichte, zu sehr Fachbuch über die Forschungen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts!
Dennoch, gibt es wohl kaum eine Biografie, die so spannend von den Anfängen der chemischen und physikalischen Wissenschaften erzählt. Und die den Menschen Oliver Sacks so sehr enthüllt, ohne ihn plakativ beschreiben zu wollen. Laien auf dem Gebiet der Chemie und Physik, die "nur" etwas über Oliver Sacks erfahren wollen, sollten dieses Buch vielleicht nicht kaufen. Allen ein wenig naturwissenschaftlich bewanderten oder interessierten Lesern kann man dieses Buch hingegen wärmstens empfehlen!