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Das spätviktorianische London ist auf vielerlei Art in unserem heutigen Bewusstsein präsent. Sei es durch Sir Arthur Conan Doyles Meisterdetektiv Sherlock Holmes, das Dandytum Oscar Wildes oder gar den Elefantenmenschen Joseph Merrick. Das wohl grausigste britische Erbe dieser Zeit jedoch dürfte die Gestalt des "Jack the Ripper" sein, jenes unbekannten Serienmörders, der im Sommer und Herbst 1888 vermutlich fünf Frauen tötete und anschließend grausamst verstümmelte, und der danach auf ebenso mysteriöse Weise wieder verschwand. Zahllose Schriften über die Ripper-Morde wurden in den letzten 120 Jahren veröffentlicht, zahllose Theorien über die Identität des Mörders entwickelt. Die Ripperologie und ihre Anhänger, die Ripperologen, sind mittlerweile fast ebenso bekannt wie das Phantom, dem sie hinterher jagen.
Auch in Deutschland hat die viktorianische Mörderjagd ihre Anhänger gefunden. Zwei der renommiertesten Ripperforscher sind Hendrik Püstow und Thomas Schachner, die vor allem durch ihre Mitarbeit an Webseiten wie
www.casebook.org und
www.jacktheripper.de in der Szene bekannt geworden sind. Diese beiden haben 2006 ein umfassendes Sachbuch mit dem Titel "Jack the Ripper: Anatomie einer Legende" auf den Markt gebracht, welches nun in der zweiten Auflage erschienen ist.
Bereits im Prolog des Bandes wird mit einer möglichen falschen Herangehensweise potentieller Leser abgerechnet. Im Gegensatz zu vielen anderen Büchern über Jack the Ripper handelt es sich hierbei nicht um die Darstellung und Untermauerung einer weiteren Theorie, wer von den unzähligen Verdächtigen es denn gewesen sein könnte, der im Jahr 1888 all diese schrecklichen Morde begangen hat. Auch wird man keine Analyse über die Beweggründe des Täters finden. Was für "Jack the Ripper: Anatomie einer Legende" zählt, sind die bloßen Fakten des Falles, die anhand der umfangreichen und mittlerweile veröffentlichten Akten der Londoner Polizei rekonstruiert wurden.
Den Großteil des Buches nimmt eine chronologische Beschreibung der Mordserie ein. Püstow und Schachner haben sich bemüht, eine so genaue Rekonstruktion der jeweiligen Vorgänge zu entwerfen, wie dies aufgrund der Aktenlage möglich war. Außerdem ist zu jedem Opfer eine kurze Vita enthalten.
Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit einer Auswahl der Verdächtigen, wobei hier - wie in einem Einführungswerk in das Thema zu erwarten - ein Großteil der Namen fällt, die in diesem Zusammenhang regelmäßig fallen. Natürlich ist ein Kapitel über die Königliche Verschwörung enthalten. Für jeden Verdächtigen ist am Ende des jeweiligen Kapitels eine Liste der Pros und Kontras enthalten, also Argumente, die für den Verdächtigen als Täter sprechen, sowie Argumente dagegen. Im Vergleich zur ersten Auflage des Bandes wurde die vorliegende Fassung aufgrund neuer Informationen um vier Verdächtige erweitert.
Anmerkungen (eigentlich Endnoten), Personenregister sowie Literatur- und Bilderverzeichnis runden den Band ab.
Das Buch ist gut geschrieben, die einzelnen Kapitel lesen sich sehr flüssig. Man merkt, dass sich die Autoren um eine möglichst neutrale Darstellung der Ereignisse und Sachverhalte bemühen, auch wenn das aufgrund des Themas und der Aktenlage nicht immer möglich ist. Gerade diese Bemühungen sind es auch, die das Buch so interessant machen. Hier wird nicht die hundertste abwegige Theorie zur Identität des Rippers dargelegt, sondern man überlässt es dem Leser selbst, sich ein Bild zu machen.
Mit Bildmaterial sind die grob 260 Seiten Text eher spärlich versehen, die Autoren konzentrieren sich auf die textuelle Aufarbeitung. Dieser Umstand ist nicht unbedingt negativ. Es finden sich abgedruckte Fotografien von Textdokumenten, zeitgenössische Karikaturen sowie Bilder der einzelnen Verdächtigen. Auf den ersten Blick verstörend ist der Umstand, dass auch von jedem Opfer eine Post-Mortem-Fotografie enthalten ist. Vor allem im Fall von Mary Jane Kelly, dem letzten Opfer, hätte dies nicht unbedingt sein müssen - eine Praxis, die man hinterfragen könnte, allerdings muss man sich auch gewahr werden lassen, dass dieses Buch von einem der grausamsten Frauenmörder des Viktorianismus handelt.
Man merkt "Jack the Ripper: Anatomie einer Legende" an, wie sehr sich die Autoren bemühen, etwas Nüchternheit in einen von Mythen und Legenden umwobenen Kriminalfall hineinzubringen. Jüngeren sowie zart besaiteten Lesern sei von diesem Buch abgeraten, da die Schilderungen der Morde trotz - oder gerade aufgrund ihrer Nüchternheit - teilweise sehr drastisch sind. Wer sich jedoch schon immer einmal einen sachlichen Überblick über die Rippermorde verschaffen wollte, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.