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Sozialisation gilt als einer der wichtigsten Begriffe sowohl in der Soziologie, der Psychologie als auch der Pädagogik. Was aber ist Sozialisation? Dieses Buch führt in wesentliche Annahmen, Mechanismen und Theorieprobleme der Sozialisation ein. Es gliedert sich in vier Kapitel.
Im ersten Kapitel fragt der Autor nach dem Verhältnis von Soziologie und Sozialisation. Da es sich bei diesem Buch um eine soziologische Einführung handelt, liegt das Primat selbstverständlich auf der Seite der Soziologie. Trotzdem werden immer wieder auch psychologische Erkenntnisse angeschnitten, auch wenn diese sich stark auf die Psychoanalyse konzentrieren. Eines der Grundprobleme einer soziologischen Sozialisationstheorie ist allerdings das Verhältnis zwischen sozialer Struktur und individuellen Lern- und Prägevorgängen. Damit verknüpft ist die Einwirkung von psychischen Dispositionen und sozialen Strukturen auf menschliches Verhalten und in welcher Art sich beides bedingt.
Das zweite Kapitel liefert Definitionen und theoretische Standpunkte zur Sozialisation. Unumstritten ist dabei, dass Sozialisation ein lebenslanger Prozess ist. Trotzdem sind die Phasen der ersten Kindheit besonders prägend für den Charakter.
Durch welche Mechanismen kann Sozialisation erklärt werden? Dies wird im dritten Kapitel behandelt. Zunächst erläutert der Autor aber zwei grundlegende Begriffe, die Internalisierung und die Interaktion. Grob gesagt bedeutet Internalisierung das Übernehmen von sozialen Elementen in das individuelle Denken. Interaktion besteht in einem Handeln, das sich am Handlungspartner oder an gesellschaftlichen Bewertungen orientiert. Erst mit diesen Grundlagen werden dann einzelne Bausteine erläutert, wie Sozialisation ablaufen kann. Diese kann in Bildung von Gewohnheiten (Habitualisierung), in der Assoziation, oder in der Reduktion von Dissonanz beziehungsweise Missklängen bestehen. Besonders wichtig aber ist die Vermittlung von individuellen Orientierungen mit der institutionalisierten Welt. Dieser Abschnitt ist der längste im dritten Kapitel. Denn die Soziologie interessiert sich natürlich besonders dafür, wie soziale Ordnung gelingt oder aus den Fugen gerät. Dreimal wird dieser Aspekt beleuchtet: von Durkheim aus, von Skinner aus und von Parsons aus.
Das vierte Kapitel fasst verschiedene Grundlagen aus verschiedenen Strömungen der Sozialisationstheorien zusammen und stellt diese nebeneinander. Der erste Abschnitt ist dem Konstrukt der Generation gewidmet. Generation ist ein undeutlicher Begriff. Wie weit reicht er und welche Mitbedingungen sind für das Entstehen einer "neuen Generation" anzuführen? Diese Fragen werden hier eher problematisiert, als dass eine fertige Lösung oder ein eindeutiger Weg vorgestellt wird. Auch der zweite Abschnitt hält sich an Problembegriffe. In diesem geht es um funktionale Theorien. In diesen wird Sozialisation (meist) als Aneignung von Werten und Normen begriffen. Der Akteur sozialisiert (sich) aufgrund seiner Interaktion mit anderen System, die allesamt Subsysteme des Allgemeinen Handlungssystems bilden. Besonders interessant wird dies, wenn es um Unterschiede zwischen familialer und schulischer Sozialisation geht. Vor allem anhand der Theorie von Parsons wird hier vorgestellt, welche unterschiedlichen Funktionen zum Beispiel Vater und Mutter in einer Familie einnehmen, wie diese Funktionen gesellschaftlich vermittelt sind und zugleich Gesellschaft vermitteln.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit Norbert Elias. Bei ihm ist Sozialisation eine spontane Selbstzähmung. Diese spontanen Effekte entstehen durch die Wechselwirkung von Sozio- und Psychogenese und führen - im Idealfall - in die Selbstpazifizierung. Die phänomenologische Soziologie von Schütz und Luckmann bildet das Thema des vierten Abschnitts. Dieser Bereich wird auch häufig Wissenssoziologie genannt, weil er stark kognitiv ausgerichtet ist. Schütz ging es darum, wie der einzelne Mensch sich die soziale Wirklichkeit konstruiert. Besonders berühmt geworden ist Schütz wegen seiner phänomenologischen Analyse der Relevanz. Mit Relevanz ist die selektive Aufmerksamkeit und Wahrnehmung gemeint. Dabei wirken gesellschaftliche Vorgaben besonders dann, wenn die Relevanz problematisch wird. Je stärker eine bestimmte Relevanz zur Gewohnheit wird, umso mehr wird sie dem eigenen Ich zugerechnet; und umgekehrt wird eine ungewohnte Relevanz als erzwungen und den Anderen zugerechnet. Natürlich ist dies nur eine grobe Übersicht. Mühler bestimmt hier die Beziehungen wesentlich genauer und zeigt auf, wie sich Individuum und Gesellschaft durch Bedeutungen, Relevanzen und Wissen ineinander verzahnen.
Nicht fehlen darf natürlich Bourdieu. Dessen Begriffe Habitus, Feld und Kapital werden im Zusammenhang mit der Sozialisation im fünften Abschnitt erklärt. Sozialisation sei vor allem ein Akkumulationsprozess von den verschiedenen Kapitalarten. Insbesondere die Kindheit dient zur Akkumulation kulturellen Kapitals, also von Wissen und Fertigkeiten. Natürlich spielt ökonomisches Kapital bei der Akkumulation kulturellen Kapitals eine Rolle, etwa, wie Familien ihre Ferien gestalten können und Kinder demnach fremde Länder, Landschaften und Menschen erleben können, oder ob Familien ihren Kindern eine Hochschulbildung oder ein teures Instrument oder einen aufwändigen Sportklub bieten können. Statt also von Werten und Normen auszugehen, wird hier über den Kapitalbegriff mittelbar erklärt, wie sich ein Habitus ausbildet, der durch Ermöglichungen und Einschränkungen gekennzeichnet ist.
Abschließend stellt Mühler die Rational-Choice-Theorie von Coleman in ihrer Beziehung zur Sozialisation vor. Rational-Choice-Theorien werden oft als unliebsam behandelt. Zu Unrecht, wie der Autor sehr scharfsinnig zeigen kann.
Einführungen sind Einführungen. Sie können dann als gelungen gelten, wenn sie ein komplexes Feld ausleuchten, zentrale Begriffe erklären und neugierig auf eine tiefgehendere Erarbeitung machen. Zudem darf man von ihnen Verständlichkeit erwarten. All dies gelingt Mühler eindrucksvoll.
Einzig unverständlich bleibt, warum zum einen die Frankfurter Schule, insbesondere Habermas, so flüchtig gestreift wird, ist doch die Kritische Theorie mit ihren zahlreichen hervorragenden Vertretern gerade für deutsche Soziologen und Studenten interessant. Niklas Luhmann taucht nicht einmal mehr im Literaturverzeichnis auf; dabei kann man ihn doch als einen der revolutionärsten Soziologen des letzten Jahrhunderts bezeichnen. Goffman wird nur gestreift, Beck scheint ebenso keiner Erwähnung wert. Man mag darin auch eine notwendige Beschränkung einer Einführung sehen. Ein etwas breiteres Spektrum hätte es dann aber doch sein dürfen, und sei es in einem knappen Zusatz zu einem Hauptkapitel.
Trotzdem: wer sich eine Übersicht und eine kluge Einführung kaufen will, liegt mit diesen Buch goldrichtig.