Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Gefühl | |
Humor | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
Ein russischer Adeliger und seine junge Frau fliehen vor der russischen Revolution nach Istanbul und anschließend vor dem Emigrantenleben dort nach Frankreich. Jahrzehnte später möchte der Mann seiner Frau das Trauma nehmen, das in Istanbul entstanden ist, und baut ihr in Istanbul, unwissentlich auf zwei Heiligengräbern, ein Haus, das sie in ihrer leichten geistigen Verwirrung "Bonbonpalast" nennt. Die Erbin interessiert sich nicht für das Haus und lässt es vermieten.
Mit dieser fantasievollen Vorgeschichte beginnt Elif Shafaks Roman "Der Bonbonpalast". Im Hauptteil geht es um die Menschen, die in den zehn Wohnungen leben und den Müllgestank teils stoisch, teils empört ertragen, der in diesem Haus besonders präsent ist, offensichtlich, weil Mitbürger ihren Müll ständig an der Gartenmauer abladen.
Die Schicksale im Haus sind vielfältig und bunt. Nicht zuletzt der dort lebende Ich-Erzähler, ein alkoholsüchtiger, frisch geschiedener Professor, trägt zu diesem Eindruck bei. Im Erdgeschoss agieren die Zwillingsbrüder Cemal und Celal als Frisöre. Bei ihnen trifft der Klatsch und Tratsch aus dem Haus zusammen, und sie geben ihn gebündelt weiter. Hausmeister Musa, seine Frau Meryem und Sohn Muhammet führen ein nicht minder kompliziertes Familienleben als Hadschi Haschi, sein Sohn, seine Schwiegertochter und die drei Kinder, von denen eines unheilbar krank, dafür extrem intelligent ist.
In Wohnung 2 lebt der in der Schweiz aufgewachsene Sidar in enger Gemeinschaft mit seinem Hund Gaba. Die Feuersons aus Wohnung 4 haben Kinder, die entweder auf die schiefe Bahn oder anderweitig sonderbar geraten sind, und zwei Wohnungen weiter quält sich eine Ukrainerin damit, dass sie seit ihrer Heirat mit dem alkoholkranken Metin Çetin nur noch als "Gemahlin Nadja" angesehen wird und ihr Mann sich mit Affären herumschlägt.
Die Blaue Mätresse liebt und hasst ihren Liebhaber, einen verheirateten Olivenhändler, und verliebt sich in den Ich-Erzähler. Oben in Wohnung 9 lebt "Hygiene-Tijene" ihren Putzfimmel aus, unter dem vor allem ihre Tochter Su zu leiden hat, und nebenan widmet sich Tantchen Madam, eine alte Dame, einer rätselhaften Sucht, die erst gegen Ende des Romans zutage tritt und ein zentrales Rätsel löst.
Mit Schwung, sehr viel Ironie bis hin zu bitterem Sarkasmus und geradezu überbordender Fantasie ist dieses Buch verfasst, das einen hohen Unterhaltungswert und durchaus einigen Tiefgang aufweist und nur daran ein wenig krankt, dass es gelegentlich, vor allem im Mittelteil, inhaltlich etwas schwach wirkt. Auch erzeugt die Vielzahl an Charakteren bisweilen doch ein wenig Verwirrung, denn die Kapitel im Roman bilden in stetem Wechsel Vorgänge in den verschiedenen Wohnungen oder aushäusige Erlebnisse der Bewohner ab; richtig heimisch in diesem von Dramatik erfüllten Tohuwabohu zu werden, fällt schwer. Dies mag jedoch gerade der Sinn des Romans sein, denn wer kann schon die Schicksale aller Bewohner eines Mietshauses nachvollziehen? Und wer vermag von sich zu behaupten, eine multikulturelle Metropole wie Istanbul zu verstehen?
Der Bonbonpalast steht natürlich auch für Istanbul, die im Müll ertrinkende Großstadt mit ihren Schwierigkeiten, Modernität auf der einen, hartnäckiger Aberglaube auf der anderen Seite. Einfache Menschen wie die Hausmeisterfamilie und heruntergekommene Intellektuelle wie der Ich-Erzähler leben Wand an Wand, und ihre Schicksale verweben sich zunehmend, nicht zuletzt dank dem Frisörsalon als Bindeglied. Mit dem Fortschreiten der vielen einander kreuzenden Handlungsstränge schließen sich einige Kreise, andere bleiben unvollendet und rätselhaft.
Das Buch reizt abwechselnd zum Lachen und Weinen; in überzeichneter Form plaudert es aus dem Leben mit all seinen Peinlichkeiten und Absurditäten sowie kleinen gelegentlichen Freuden. Die Liebe zieht sich wie ein nicht fassbares Phantom durch den Roman, und über allem steht die Frage, was nun eigentlich Wahrheit ist und was Lüge.
"Der Bonbonpalast" reicht bei Weitem nicht an Elif Shafaks Meisterwerk "Der Bastard von Istanbul" heran, bietet aber über weite Strecken gute Unterhaltung auf hohem Niveau. Das Buch ist attraktiv und hochwertig aufgemacht und auf jeden Fall seinen Preis wert.