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Paul Wittgenstein wird als zweitjüngster Sohn des österreichischen Großindustriellen Karl Wittgenstein geboren; sein jüngerer Bruder Ludwig wird später einmal zu einem der berühmtesten Philosophen des 20. Jahrhunderts werden.
Kälte herrscht in dieser Familie, die der patriarchalische Vater unerbittlich regiert. Fehler und Schwächen darf sich niemand erlauben. Im Lauf der Jahre begehen drei von fünf Söhnen Selbstmord. Die Namen dieser "Versager" zu nennen, ist innerhalb der Familie untersagt; sie werden aus dem Gedächtnis der Wittgensteins ausradiert.
Karl Wittgenstein ist ein ausgezeichneter Violinist, seine Frau eine gute Pianistin. Das schwerreiche Paar agiert als Mäzene für aufstrebende Künstler und Musiker, und Persönlichkeiten wie Brahms und Clara Schumann oder auch Gustav Klimt verkehren im Hause Wittgenstein. Als Paul den Wunsch äußert, Pianist zu werden, erteilt ihm der Vater eine strenge Abfuhr: Ein Wittgenstein darf sich nicht prostituieren; dass Paul wie seine Geschwister die besten Musiklehrer erhalten hat, liegt daran, dass die Wittgensteins auch ihre Freizeitaktivitäten perfektionistisch, auf keinen Fall dilettantisch betreiben müssen und sich darin aneinander messen.
Paul und auch Ludwig setzen sich, im Gegensatz zu ihren älteren Brüdern, durch. Der Tod des Vaters kommt Paul zupass, doch dann ereilt ihn ein anderes Schicksal: Der glühende Patriot verliert schon zu Anfang des Ersten Weltkriegs seinen rechten Arm.
Paul lässt sich nicht beirren und übt unablässig, nicht nur das Klavierspiel, sondern auch alle alltäglichen Verrichtungen, die mit einer Hand nur unter höchsten Schwierigkeiten zu bewerkstelligen sind. Als Pianist feiert er Erfolge, von seiner Familie wird der Klavier spielende Krüppel verspottet. Paul agiert auch als Mäzen und gibt bei den berühmten Komponisten seiner Zeit Konzerte für die linke Hand in Auftrag.
Immer tut er sich schwer damit, die verschiedenen Seiten seiner Persönlichkeit unter einen Hut zu bekommen. Als er nach vielen Irrungen und Wirrungen die Frau seines Lebens gefunden hat, bricht seine Welt in Trümmer: Der Nationalsozialismus begräbt Österreich unter sich, und Paul Wittgenstein hat drei jüdische Großelternteile.
Lea Singer porträtiert die bekannte und tragische Figur des "einarmigen Pianisten" in sehr einfühlsamer Weise und stellt vor allem die Widersprüche heraus, mit denen Paul Wittgenstein zu kämpfen hatte. So liebte er die Wahrheit, führte aber ein Doppelleben mit ständig wechselnden Geliebten, er war Patriot und sah sich durch die Nationalsozialisten genötigt, seine Heimat zu verlassen. Nicht immer wusste er, ob seine Erfolge auf sein Können oder seine besondere Situation als einarmiger Pianist zurückzuführen waren. Einerseits versuchte er, sich aus der Familie mit ihrem erstickenden, kalten Dünkel zu befreien, andererseits unterwarf er sich ihr, etwa, wenn nicht standesgemäße Geliebte schwanger wurden - bis es ihm gelang, aufrecht an der Seite einer Eisenbahnertochter zu bleiben.
Der ganze Schrecken von Paul Wittgensteins Kindheit und Jugend im goldenen Käfig und die schiere Unmöglichkeit der Geschwister, sich daraus anders als durch Selbstmord zu lösen, werden in diesem Roman, der sich sehr eng an die Biografie anlehnt, nachvollziehbar ausgebreitet, ebenso Wittgensteins schließlich erfolgreicher, verzweifelter Kampf um seinen eigenen Weg und seine Identität. Auch die unerbittliche Konkurrenz und die Hassliebe der Geschwister weiß Lea Singer gut darzustellen.
Sozusagen nebenbei lernt der Leser zudem Ludwig Wittgenstein kennen, den Bruder, der, ebenfalls gegen den Willen der Familie, doch von den nach dem Tod des Vaters tonangebenden Schwestern vergöttert, zu einem angesehenen Philosophen wurde.
Nicht zuletzt aber ist "Konzert für die linke Hand" ein Abgesang auf die Donaumonarchie und eine authentisch wirkende Schilderung der Zwischenkriegszeit aus der Sicht eines Mannes, der seine Umwelt genau und kritisch beobachtete, der die noble Villa seiner Familie oft verließ, um sich unter das "gemeine" Volk zu mischen.
Spannend und zugleich anrührend verfasst, fesselt dieses Porträt eines nicht unbedingt sympathischen, aber Respekt einfordernden Mannes den Leser bis zur letzten Seite. Empfehlenswert - nicht nur für Musikfreunde!