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Marlene Streeruwitz ist bekannt für ihre Formexperimente. Egal, ob es sich um eine Groschenroman-Trilogie handelt ("Lisas Liebe"), eine Verfallsgeschichte in der Form eines Gesellschaftsromans geschildert wird ("Partygirl") oder ob im Stile Schnitzlers in eine radikale weibliche Subjektivität gezoomt wird ("Jessica, 30"), immer höhlt Streeruwitz bekannte Formen aus und füllt sie neu aus. So auch in ihrem aktuellem Roman "Kreuzungen". Wieder einmal erfindet Streeruwitz ihr Erzählen neu und bleibt sich damit nur umso mehr treu.
Doch gibt es dieses Mal eine richtige Überraschung: Zum ersten Mal im Romanuniversum von Marlene Streeruwitz wird die Welt aus einer männlichen Perspektive geschildert. Der Protagonist Max ist eine Verkörperung von Reichtum und Macht. Sein Selbstbild, seine Selbst-Spiegelung in anderen Menschen gerät in eine ernsthafte Krise, als seine Frau Lilli ihn verlässt - und die Kinder mitnehmen will. Und so zieht sich Max zurück nach Bern, lässt sich statt seiner alten Zähne neue aus Titan einsetzen - natürlich sieht man nur zu deutlich Thomas Mann und Sigmund Freud durchschimmern - und begibt sich zur Rekonvaleszenz nach Venedig (und schon wieder Thomas Mann). Dort lernt er den Kotkünstler Gianni kennen, eine seltsam abgerissene Gestalt, dort erlebt er seine "fast 40 Tage", eine Anspielung auf die 40 Tage Moses auf dem Berg Sinai und Jesus in der Wüste. Nach dieser Reinigung wird die anschließende Suche nach einer neuen Partnerin konsequent dem Dogma der Ökonomie und Lieblosigkeit unterstellt - und an eine Heiratsvermittlerin übergeben.
Aus dieser männlichen Perspektive wird aber zugleich etwas Übergeordnetes verhandelt: das Wirken patriarchaler Macht. Unübersehbar schimmert dabei immer wieder Foucaults Souverän, vor allem aber Elias Canettis paranoider Herrscher durch. Eine Paranoia des Machtverlustes, die auch Max gegenüber Francesca, seiner neuen, sachlichen Frau in spe, nicht unterdrücken kann. Und so wird der Text zu einem Einblick in das Räderwerk eines Machtgefüges, eines männlichen Machtgefüges. In Marlene StreeruwitzÂ’ neuem Roman verschränken sich wieder einmal Geld, Macht, Sex und Sexualität zu einem monströsen Ganzen. Das Ergebnis ist Max.
Das Buch ist sprachlich ungewöhnlich gut lesbar für Marlene Streeruwitz - wäre da nicht der sperrige Inhalt. Ständig schwankt der Text zwischen skurriler Überzeichnung, kapitalistischer Exotik und kühler Machtstrategie. Marlene Streeruwitz bleibt ihrer Thematik treu, Männlichkeit und Weiblichkeit bilden wieder das Zentrum, um das der Text kreist. Doch sei der Leser gewarnt, der hofft ein einfaches schwarz/weiß-Abziehbild von Tätern und Opfern dort zu finden. Das liefert der Text nicht. Es ist nicht der Mann als Geschlecht, der diese Macht ausübt. Es ist die Macht, die den Mann erst hervorbringt. Eben diesen Typus leuchtet "Kreuzungen" aus. Wieder einmal hat Marlene Streeruwitz experimentiert. Will man über diesen Versuchsaufbau überhaupt urteilen? Kann man darüber überhaupt urteilen, ohne sich selbst gegenüber der Offenheit des Textes/der Texte zu diskreditieren?