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Die Jahrzehnte um den Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert waren geprägt von einer Gesellschaft, die Sittenstrenge, Obrigkeitsglauben und Militarismus predigte. Dieses Phänomen beschränkte sich nicht nur auf Deutschland, sondern war in ähnlicher Form auch in anderen europäischen Ländern wie beispielsweise England deutlich erkennbar. So verwundert es nicht, dass auch gesellschaftliche Gegenströmungen bald eine Prominenz entwickelten, die bis heute nachwirkt. Die wohl nachhaltigste europaweite Gegenbewegung, die einer ganzen Epoche ihren Namen gab, war der Dekadentismus oder Fin de Siécle, was auf Deutsch soviel bedeutet wie "Ende des Jahrhunderts". Mit dem "Handbuch Fin de Siécle" ist nun im Alfred Kröner Verlag unter der Herausgeberschaft von Sabine Haupt und Stefan Bodo Würffel ein Band erschienen, der für sich in Anspruch nimmt, erstmals einen umfassenden Komplettüberblick über diese Epoche zu geben.
Gleich in der Einleitung wird ein elementarer Aspekt der Epoche Fin de Siécle angesprochen: Bei ihr handelt es sich nämlich nicht, wie vielfach angenommen, um eine Erscheinung, die ausschließlich mit dem Wechsel des Jahrhunderts in Verbindung steht. Vielmehr umfasst der Fin de Siécle grob den Zeitraum von 1885 bis 1914, in Deutschland also die Wilhelminische Ära bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs.
Das Buch gliedert sich in eine Einleitung und sechs Kapitel, die sich mit verschiedenen Aspekten der Epoche auseinandersetzen. Kapitel 1 heißt "Europäisches Umfeld" und liefert einen Überblick über die verschiedenen Ausprägungen des Fin de Siécle in den einzelnen Ländern, so unter anderem in Frankreich, Großbritannien und Italien. Kapitel 2 befasst sich mit Gesellschaft und Gesellschaften, hebt einzelne Künstler-Gruppen hervor und geht auch auf Sonderthemen wie "Schreibende Frauen" und "Die deutsch-jüdische Kulturgemeinschaft" ein. Während Kapitel 3 die "literarischen Formen" des Fin de Siécle untersucht, widmet sich Kapitel 4 den übrigen Künsten wie Architektur, Malerei oder Musik und Tanz. Kapitel 5 wirft einen Blick auf den Einfluss dieser Epoche auf die Wissenschaften, und Kapitel 6 schließlich enthalt auf knapp 200 Seiten zahlreiche Bio-Bibliographien wichtiger Persönlichkeiten dieser Epoche.
Die erste Überraschung, die man als Leser bei der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses haben dürfte, ist die Tatsache, dass sich das "Handbuch Fin de Siécle" scheinbar größtenteils auf Deutschland konzentriert. Dieser ungewöhnliche Schritt der Autoren erscheint bei näherem Überlegen jedoch nachvollziehbar. Haupt und Würffel schränken sich regional/national ein, um die Wirkung des Fin de Siécle auf die Bereiche des menschlichen Lebens möglichst umfassend darstellen zu können. Hat man sich mit diesem Aspekt erst einmal abgefunden, erweist sich der Band als nahezu unerschöpfliche Quelle epochenspezifischen Wissens. Alle relevanten Erscheinungs- und Wirkungsformen des Fin de Siécle werden vorgestellt und umfassend erklärt.
Auch das äußere Erscheinungsbild macht einen guten Eindruck. 952 Seiten füllen den roten Hardcoverband, der von einem thematisch und farblich passenden Schutzumschlag umhüllt wird. Ein weißes Lesebändchen, welches bei einem Buch diesen Umfangs sehr sinnvoll ist, rundet das Gesamtbild ab. Der Preis ist mit satten 49 Euro nicht ohne, allerdings muss man ganz klar sagen, dass das Preis-Leistungsverhältnis unter Berücksichtigung der üblichen Preise für Fachliteratur hier jeden Euro wert ist.
Das "Handbuch Fin de Siécle" ist ein beeindruckender Band zu einer der interessantesten und widerspruchreichsten Epoche der europäischen Neuzeit. Durch die Konzentration von Entwicklung und Ausprägung des Fin de Siécle in Deutschland haben Haupt und Würffel eines der überzeugendsten und umfassendsten Werke zu diesem Thema vorgelegt. Alle Aspekte dieser Epoche sind in diesem Band vertreten und werden angemessen betrachtet. Einzig ein ausführliches Literaturverzeichnis am Ende des Bandes fehlt zur absoluten Zufriedenheit des Rezensenten - möglicherweise eine Anregung für eine kommende Überarbeitung.