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Kojima Nobuo ist einer der bekanntesten Autoren Japans im zwanzigsten Jahrhundert. Der 2006 verstorbene Nobuo, der neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch als Übersetzer und Anglistik-Professor arbeitete, verarbeitete in dem Roman "Fremde Familie" aus dem Jahr 1965 sein eigenes Familienleben.
Shunsuke Miwa ist mit Tokiko verheiratet. Die beiden haben zwei Kinder, einen Sohn namens Ryoichi und eine Tochter mit dem Namen Noriko. Shunsuke arbeitet als Dozent an der Universität und Englischübersetzer, während seine Frau sich zusammen mit der Angestellten Michiyo um den Haushalt kümmert.
Aber das ruhige Familienidyll trügt. Tokiko hat eine Affäre mit dem amerikanischen Soldaten George, Shunsuke muss ihrem Treiben hilflos zusehen. Er hat weder den Mut noch die Kraft, sich ihr entgegenzustellen. Und trotz ihrer Eheprobleme stimmt er nachgiebig zu, als sie ihn drängt, in ein neues, größeres Haus zu ziehen.
Dann aber wird Tokiko schwerkrank und muss ins Krankenhaus. Shunsuke kümmert sich um sie, auch später, als sie wieder nach Hause möchte, und danach, als sie wieder zurück in ärztliche Behandlung muss und schließlich stirbt.
Shunsuke bleibt mit den Kindern allein zurück, in einem Haus, das er nicht mag und das eigentlich zu teuer für die Familie ist, und in einem Leben, das er nur mit Tokiko kennt und in dem er selbst bisher stets hilflos und passiv agierte. Doch jetzt, da Tokiko nicht mehr da ist, muss er lernen, die Dinge in die Hand zu nehmen. Aber kann man sich ändern, wenn man das Gefühl hat, von niemandem richtig ernst genommen zu werden?
Der Leser begleitet Shunsuke in "Fremde Familie", nimmt an seinen Erlebnissen und seinen Gedanken teil. Immer wieder will er den Protagonisten packen und ihm den richtigen Weg weisen, doch Shunsuke ist in alte Gewohnheitsmuster verstrickt und sperrt sich, bewusst und unbewusst, gegen Veränderungen, von denen er aber kaum eine aufhalten kann, weil er zu passiv und vorsichtig agiert.
Außer Shunsuke lernt man bei der Lektüre kaum einen der Charaktere im Buch kennen. Tokiko mit ihrer sprunghaften, launischen Art und ihrem aufsässigen Verhalten dem eigenen Ehemann gegenüber - wir erinnern uns, der Roman stammt aus dem Jahr 1965 - erscheint noch am lebendigsten und kraftvollsten, obwohl sie es ist, die schließlich sterben muss. Dennoch bleibt der Fokus auf Shunsukes Gedankenwelt gerichtet, die sich in häufigen inneren Monologen widerspiegelt. Indes zeigt sich der Roman von einer sehr sprunghaften, erzähltechnisch unruhigen Seite. Immer wieder macht die Handlung einen unauffälligen Sprung, und so ist der Leser zu ständiger Achtsamkeit gefordert, um dem Geschehen zu folgen. Die Dialoge stehen dem in nichts nach, erscheinen durch unbeantwortete Fragen und Bruchstücke sehr real. Häufig fällt der Begriff "naturalistisch" im Zusammenhang mit "Fremde Familie", und das trifft in Anbetracht der Dialoge und der geschilderten alltäglichen Begebenheiten absolut zu.
Das Glossar, das einige Begriffe und Besonderheiten erläutert, sowie das Nachwort von Übersetzer Ralph Degen bieten abschließend viele wichtige Informationen. Vor allem das ansprechende Nachwort öffnet dem Leser den Blick auf diesen außergewöhnlichen Roman, geht auf Erzähltechnik, autobiografischen Ansatz des Werkes ein und thematisiert dessen Einbettung in den zeitgeschichtlichen Rahmen.
Literarisch gesehen ist "Fremde Familie" ein anspruchsvolles, in sich stimmiges und gelungenes Werk eines der wichtigsten Nachkriegsautoren Japans. Durch den eigenwilligen, sprunghaften Erzählstil und die stete Distanz zu den Charakteren wird es jedoch nicht jedermanns Geschmack sein und verlangt dem Leser einiges an Konzentration und Vorwissen über die Thematik des Japan in der Nachkriegszeit ab.