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Nachdem sie jahrzehntelang von der Literaturwissenschaft ignoriert wurde, ist die phantastische Literatur in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtungsweise gerückt. Sicher ist diese Entwicklung unter anderem dem "Harry Potter"-Hype und der "Herr der Ringe"-Verfilmung geschuldet. Doch auch abseits dieser Mainstream-Entwicklung hat sich die Literaturwissenschaft Genres geöffnet, die nicht der gehobenen Literatur zugeordnet werden können. Das Interessante dabei ist, dass diese Nischengenres bisher einen relativ weißen Fleck auf der wissenschaftlichen Landkarte einnahmen, was zur Folge hat, dass nur in den seltensten Fällen fertige wissenschaftliche Grundlagen und Theorien zur Verfügung stehen. Ein großer Anreiz für junge Literaturwissenschaftler in diesen Bereichen ist es daher, Grundlangenarbeit zu leisten.
Im Bereich der phantastischen Literatur hat Uwe Durst im Jahr 2001 seine Dissertation zur "Theorie der phantastischen Literatur" veröffentlicht. Diese Arbeit ist nun als aktualisierte, korrigierte und erweiterte Neuauflage in der Reihe "Literatur - Forschung und Wissenschaft" (Band 9) im Lit-Verlag Berlin erschienen.
Das Buch gliedert sich acht Kapitel zuzüglich Einleitung und Schluss. An erster Stelle steht die Frage nach der "Definition der phantastischen Literatur" (Kapitel 1). Ausgangspunkt für die "Theorie der phantastischen Literatur" ist die Untersuchung "Einführung in die fantastische Literatur" von Tzvetan Todorov aus dem Jahr 1970, die für Durst weiterhin die grundlegende Untersuchung zur Phantastik ist. so wendet er die ersten fünfzig Seiten seiner Arbeit dafür auf, Todorovs Theorie gegenüber dessen Kritikern, zu denen unter anderem der Pole Stanislaw Lem gehört, zu verteidigen. Allerdings verschweigt er auch nicht die Schwächen von Todorovs Ansatz. Anschließend leitet er von Todorovs aus zu seinem eigenen theoretischen Ansatz über.
Durst ersetzt den Begriff der Wirklichkeit durch den eines Realitätssystems, was bedeutet, dass die Gesetze der erzählten Welt als "Wirklichkeit" im Rahmen der Erzählung gelten. Des Weiteren unterscheidet er im Rahmen der erzählten Welt zwischen Realismus (R) und dem System des Wunderbaren (W), wobei das narrative Spektrum an einem beliebigen Grad zwischen diesen beiden Punkten liegen kann. Das Phantastische schließlich bezeichnet er als Nichtsystem, welches in der Mitte des narrativen Spektrums liegt.
Dieses Prinzip wird in den beiden folgenden Kapiteln "Der Kampf der Systeme" und "Die Verfahren des Phantastischen" näher beleuchtet. Im darauf folgenden Kapitel untersucht Durst schließlich "Das thematische Material", also die in phantastischer Literatur verarbeiteten Themen, Motive und Logiken, dabei orientiert er sich vor allem an den Arbeiten von Peter Penzoldt, die er mit seiner Differenzierung von wunderbaren und realistischen Themen vergleicht.
Kapitel 5, "Phantastische Literatur im 20. Jahrhundert", beleuchtet einen weiteren Aspekt des Genres, der erst im 20. Jahrhundert dominant auftritt: das Prinzip unausformulierter Realitätssysteme, wie Durst an Texten von Lovecraft ("The Music of Erich Zann") und Kafka ("Die Verwandlung" und "Der Landarzt") verdeutlicht. In diesen Fällen wird entweder auf die Beschreibung der wunderbaren Ordnung gänzlich verzichtet, oder es werden mehrere inkompatible wunderbare Ordnungen gegeneinander gestellt.
Kapitel 6 untersucht "Das Verhältnis der phantastischen Literatur zu anderen Genres", indem Durst verschiedene Theorien (zum Beispiel Schröder) heranzieht und den Vergleich auf synchroner und diachroner Ebene führt.
In "Gültigkeit und Diskurs" (Kapitel 7) spricht Durst auf wenigen Seiten das Problem poetischer Rezeption phantastischer Texte sowie den zerstörerischen Einfluss des Lachens auf das Phantastische an. Kapitel 8, "Lob des Phantastischen", schließlich ist noch ein kurzer Exkurs, der die Eigenschaften des Phantastischen als Potenzierung und Parodie der Literatur" untersucht.
Mit 29,90 Euro ist Dursts "Theorie der phantastischen Literatur" sicher keine günstige, aber auf jeden Fall eine lohnende Anschaffung. Menschen, die sich wissenschaftlich mit phantastischer Literatur auseinandersetzen, werden an dieser Arbeit nicht vorbeikommen, da sie zur Grundlagenliteratur über das Genre der Phantastik gehört. Ausgehend von den Schriften Todorovs entwickelt Durst seine eigene Theorie der phantastischen Literatur, welche er im Folgenden an zahlreichen Beispielen anwendet und untermauert. Trotz seiner Komplexität versteht es Durst, sein Konzept verständlich und dennoch dicht gepackt zu vermitteln. Zwar richtet sich das Buch in erster Linie an wissenschaftliche Leser, aber auch Interessierte abseits universitärer Arbeit, die in der Phantastik mehr als nur kurzweilige Unterhaltungsliteratur sehen und sich in ihrer Freizeit näher mit diesem Thema beschäftigen wollen, werden in dem Buch einige interessante Ansätze finden.