Ein Junge steigt in die Gondel eines Riesenrads, die Gondel fährt nach oben und kommt wieder herunter - und der Junge ist spurlos verschwunden. Der Junge ist Teds Cousin Salim, und Ted weiß, dass Leute sich nicht einfach so in Luft auflösen - auch wenn Teds Gehirn mit einem anderen "Betriebssystem" läuft als das anderer Leute und er deshalb manche Sachen nicht so gut verstehen kann.
Eigentlich fängt alles damit an, dass Salim und Tante Gloria zu Besuch nach London kommen. Salim will unbedingt mit dem Riesenrad, dem berühmten Eye of London, fahren. Als er, Ted und Teds Schwester Cat in der Schlange stehen, um Tickets zu kaufen, kommt ein fremder Mann und bietet ihnen eine Freikarte an. Nach einigem Überlegen nimmt Salim die Karte. Er steigt in die Gondel, nur steigt er nach der dreißigminütigen Fahrt nicht wieder aus.
Ist Salim entführt worden? (Das glaubt Tante Gloria, die krank vor Sorge ist.) Ist Salim tot? (Das traut sich niemand laut zu sagen.) Oder ist ihm etwas ganz anderes zugestoßen? Ted hat acht Theorien entwickelt, was mit Salim passiert sein könnte: Vielleicht ist er in eine Zeitschleife geraten und sitzt nun irgendwo fest. Vielleicht hat er sich unter den Kleidern von jemand anderem versteckt und ist dann verschwunden. Oder - und das ist Teds Lieblingstheorie - er hat sich spontan selbst entzündet. Wenn man die acht Theorien nach dem Ausschlussprinzip nach und nach streicht, dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, davon ist Ted überzeugt. Zusammen mit seiner Schwester Cat macht er sich daran, den Fall um den verschwundenen Jungen aufzuklären …

"Der Junge, der sich in Luft auflöste" ist ein toller, spannender und unterhaltsamer Roman, in dessen Mittelpunkt der zwölfjährige Ted steht. Ted ist Autist; zwar versteht er manche Sachen nicht so gut - zum Beispiel Gesichtsausdrücke oder Redewendungen -, aber sein Gehirn ist gnadenlos gut darin, nachzudenken. Und das tut Ted, nachdem Salim spurlos verschwunden ist. Indem er Theorie für Theorie durchgeht und die Teile dieses Rätsels wie ein Puzzle zusammensetzt, kommt Ted schließlich dahinter, was mit Salim passiert ist. Dumm nur, dass Zuhause alle krank vor Sorge sind und dass niemand ihm so richtig zuhört …
Die Idee hinter dieser Geschichte ist originell (wie kann jemand aus einer geschlossenen Gondel verschwinden, in der sich zwanzig Leute befinden?) und die Story selbst ist superspannend erzählt, sie besitzt Witz und Situationskomik. Über weite Strecken hat das Buch ein klein wenig von Mark Haddons genialem Buch "Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone" - auch hier ist es ein autistischer Junge, der aus der Ich-Perspektive erzählt und einen Fall löst -, aber ohne geklaut zu wirken, auch wenn es einige Parallelen gibt. Vor allem die Auflösung ist richtig gut gelungen und glaubhaft; wo anderen Büchern gegen Ende die Puste ausgeht, zaubert die Autorin hier noch mal eine gute, schlüssige Idee aus dem Hut.

Gelesen wird dieses Hörbuch auf vier CDs von Gustav Peter Wöhler. Er trifft genau den richtigen Ted-Ton - jungenhaft, aber dabei ernst und nüchtern, denn von Emotionen versteht der autistische Junge nicht viel; durch Wöhlers Interpretation sieht man die Welt, die oft sehr unbegreiflich und kompliziert ist, mit Teds Augen. Gerade die trockene, sachliche Art reizt manchmal zum Lachen, auch wenn es gerade nicht wirklich lustig ist. Für Kinder dürfte Teds "seltsame" Art auch einigen Stoff zum Nachdenken bieten, hier sieht man die Welt einmal mit ganz anderen Augen.
"Der Junge, der sich in Luft auflöste" aus der Feder der 2007 verstorbenen Autorin Siobhan Dowd ist eine echte Kaufempfehlung. Spannend, originell und außergewöhnlich bis zum Schluss. Diese bezaubernde Lesung wird sowohl Kindern als auch Jugendlichen und Erwachsenen gefallen.