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Hans van den Broek ist seiner Frau Rachel nach New York gefolgt. Der erfolgreiche Banker lebt mit ihr seit den Anschlägen auf das World Trade Center in einer Hotelsuite. Scheinbar unverändert gehen beide ihren Tätigkeiten nach. Unmerklich aber entfernt sich Rachel innerlich von Hans. Ohne erkennbare Dissonanzen leben beide nur noch nebeneinander her. Ihr Sohn Jake wird zum Lebensmittelpunkt und einzigem Berührungspunkt zwischen den beiden Ehepartnern. Während Hans, von Natur aus phlegmatisch und angepasst, konventionell und bieder, die äußeren Umstände hinnimmt, leidet seine Frau sehr stark unter dem Gefühl der Verunsicherung und der latenten Bedrohung, die seit dem September 2001 allgegenwärtig ist. Sie beschließt, Hans zu verlassen und nach London zurückzukehren.
Hans fliegt alle zwei Wochen zu ihnen, um den Kontakt aufrecht zu erhalten, kann aber seine Ehe nicht retten. Er beginnt, Kricket zu spielen, macht die Bekanntschaft von Chuck Ramkissoon, einem aus Trinidad stammenden Außenseiter, der wie kein anderer seinen amerikanischen Traum der unbegrenzten Möglichkeiten lebt. Die ungleichen Männer werden Freunde. Irgendwann bemerkt Hans zwar, dass Chuck eine dunkle, brutale Seite hat, hält aber unbeirrt an ihm fest. Nur die fast verschwundene Liebe zu seiner Frau Rachel lässt Hans schließlich sein Leben überdenken.
Kann man den preisgekrönten, komplexen, schwierigen und ausufernden Roman "Niederland" von Joseph ONeill auf dreihundertachtundsiebzig Minuten kürzen, ohne dass er Schaden nimmt?
Leser werden sagen nein, denn ganze Handlungsstränge, Personen und Ereignisse fallen zwangsläufig der Schere zum Opfer. Übrig bleibt ein langer, fiktiver Monolog von Hans van den Broek, der vor allem durch seine sehr komplexe Sprache, das hohe Maß an psychologisierender Selbstreflexion und fast eine manierierte Art der Beschreibung auffällt. Da werden nächtliche Lichtflecken zu Lichttrapezoiden und einfachste Begebenheiten allein durch die Wortwahl und Satzstellung zu fast unverständlichen Schilderungen. Nach einer gewissen Gewöhnung aber folgt man diesem Bericht, der - obwohl fiktiv - sehr stark real und autobiografisch wirkt, immer faszinierter und begeisterter.
Es fällt dem Hörer nicht auf, was in der Hörbuchfassung fehlt, so viele Elemente gilt es zu entschlüsseln, so viele Begebenheiten zu verstehen, so viele zwischen den Zeilen angedeutete Dinge zu bewerten. So wird der Anschlag kaum erwähnt und ist doch allgegenwärtig. Auch die Freundschaft zu Chuck ist allein durch Rückblenden und assoziative Anmerkungen erfahrbar und wird nur sehr langsam verständlich.
Krankt das Hörbuch auch ein wenig an der eigentlich völlig uninteressanten Hauptfigur Hans van den Broek, so ist es gerade diese Tatsache - Hans ist eher ein Spiegel, der die Dinge wiedergibt, die ihn umgeben, als dass er sie verändern würde -, die aus dem Kaleidoskop verschiedenster Fragmente ein faszinierendes, immer wieder sich wandelndes Bild entstehen lässt.
Absolut perfekt liest Matthias Brandt dieses Stück des Amerikaners und New Yorkers ONeill. Zu keiner Zeit hat man das Gefühl eines Vortrags, immer denkt man, dass wirklich Hans da vor sich hin erzählt, räsoniert, fabuliert und sich erinnert. Mühsam kämpft er sich durch seine Erinnerungen, lässt den Hörer teilhaben an dem schwierigen inneren Prozess der Selbstwahrnehmung. Lässt ihn in die innersten Gedanken eindringen und ihn kennen lernen.
ONeill gelingt es, die Hauptfigur und durch ihn New York zu erfahren, diesen Schmelztiegel aus Nationalitäten, Hoffnungen und Niederlagen. Diesen nach dem Anschlag so völlig veränderten und doch gleich gebliebenen Ort. Diesen Moloch, den man nie betreten, niemals wieder verlassen und aus dem man zu jeder Zeit wieder fliehen will - und das alles gleichzeitig.
Dank Matthias Brandt und einem geschickten Auszug aus dem Romantext ist "Niederland" ein sehr gutes Hörbuch geworden. Zwar mühsam für den Hörer und nicht immer sprachlich glänzend, fasziniert der Autor mit einer eigentlich völlig belanglosen, doch wunderbar komplexen Geschichte über die unmerklichen Folgen des Anschlags vom 11. September 2001 - ohne diese Tat in den Mittelpunkt zu rücken.