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Achtundzwanzig Jahre lang wurde Berlin durch eine Mauer getrennt. "Die Nacht, in der die Mauer fiel", die Nacht des 9. November 1989, jährt sich dieses Jahr zum zwanzigsten Mal, was in Literatur und Presse entsprechend gewürdigt wird. Neben Dokumentationen über die Sprachlosigkeit dieser Nacht, die im Wörtchen "Wahnsinn" kumulierte, und allerlei anderen Sachgeschichten, kann man im Suhrkamp Verlag lesen, was Schriftsteller von jener Nacht erzählen.
Insgesamt fünfundzwanzig Autoren aus Ost und West hat Renatus Deckert überzeugen können, sich schreibend an die Nacht des 9. November 1989 zu erinnern. Friedrich Christian Delius macht beispielsweise nochmal deutlich, dass die Berliner Mauer nicht fiel, "sondern, von einem Wimpernschlag auf den andern, durchlässig wurde". Bei ihm, wie auch vielen anderen, liest man von der Schwierigkeit des Sich-Erinnerns, denn in Anbetracht der Bilder, die so viele Male über den Fernsehbildschirm geflimmert sind, fällt es schwer, tatsächlich Erlebtes davon abzugrenzen. Vielleicht schreibt Durs Grünbein wegen dieses Dilemmas nicht aus der Ich-Perspektive, und auch Jürgen Becker erzählt seine Geschichte lieber aus der Perspektive eines Jörn Winter. Katja Lange-Müller war an jenem Abend Teilnehmerin einer Podiumsdiskussion, zu der nur wenige Leute erschienen, was sicher ein Grund war, warum sie mit einem Kollegen das nächstbeste, ebenfalls relativ menschenleere Lokal ansteuerte, ordentlich trank und ziemlich besoffen schließlich im Fernsehen über die Ostberliner, "die wie Rumpelstilzchen auf der Mauer herumtanzten", stolperte. Beinahe genau fünf Jahre zuvor war Katja Lange-Müller aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen worden und in den Westen übergesiedelt. Richard Wagner hatte die DDR ebenfalls verlassen (können). Am Tag der Maueröffnung war er auf einer Lesung in Wien und erfuhr durch einen Anruf davon. Den Rest des Abends verbrachte er vor dem Fernseher. Auch Michael Lentz saß vor dem Fernseher, allerdings in München - ihm fehlte die Motivation, sich auf den weiten Weg nach Berlin zu machen. Andere haben vom Mauerfall in jener Nacht nicht viel mitbekommen: Uwe Tellkamp absolvierte im November 1989 gerade seinen Wehrdienst bei der NVA und der Dresdner Baum- und Strauchpoet Thomas Rosenlöcher verschlief die Nacht einfach, während Katja Oskamp in Kuba fremdging. Wieder andere denken beim 9. November 1989 an etwas anderes als den unmittelbaren Mauerfall: Kathrin Schmidt schreibt, wie sie Mitglied der SED wurde und Marcel Beyer denkt beim 9. November 1989 zuerst an seinen ersten eigenen Wagen, einen nachtblauen Fiat 127.
Das eigentlich Interessante an dieser Anthologie ist natürlich nicht das, was die Autoren in der Nacht, in der die Mauer fiel, gerade taten, wo sie waren und mit wem, sondern der Zustand, in der sie diese Neuigkeit überfiel, und natürlich der Zustand, in den sie diese Nachricht versetzte. "Es ist, als säße ich in einem Zug, und sämtliche Bäume, an denen ich schon vorbeigefahren bin, kommen mir plötzlich wieder entgegen.", schreibt Katja Lange-Müller in ihr Tagebuch. Und so geht es in den meisten Beiträgen nicht nur um das Konkrete des Tages, das allerdings auch immer präsent ist, sondern vor allem auch um die Assoziationen, die dieses Denken an "damals" auslöst. Von München aus betrachtet, sah der Mauerfall anders aus, als aus Westberlin. Die Westberliner Perspektive wiederum unterschied sich von der Ostberliner und die von der Dresdner. Und über allem stehen die individuellen Lebensverläufe: ein junger Münchner ohne direkten Ostbezug, ein westdeutscher Ex-DDR-Bürger, ein ostdeutscher Linker ... Alle nehmen die Ereignisse vom 9. November 1989 unterschiedlich wahr, für alle haben sie unterschiedliche Auswirkungen, wecken unterschiedliche Hoffnungen, Erinnerungen oder Ängste.
Nach
"Das erste Buch" legt Renatus Deckert mit "Die Nacht, in der die Mauer fiel" eine weitere interessante Anthologie vor, die die unterschiedlichen Perspektiven von fünfundzwanzig ost- und westdeutschen Autoren auf ebenjene Nacht und die damit verbundenen Assoziationen zusammenträgt.