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Was wäre, wenn Vlad Tepes, besser bekannt unter dem Namen Dacrula, wirklich gelebt hätte? Wenn Abraham Van Helsing eine reale Figur gewesen wäre, die – so, wie es Bram Stoker in seinem Roman „Dracula“ beschreibt – gegen den Blutsauger gekämpft hätte? Und was, wenn er diesen Kampf verloren hätte?
Kim Newman, britischer Schriftsteller und Journalist, hat sich dieser „Was wäre, wenn“-Fragen angenommen und eine Mischung aus historischem Roman, Horror und Vampirfantasy kreiert. Von den dabei entstandenen Einzelbänden „Anno Dracula“, „Der Rote Baron“ und „Dracula Cha-Cha-Cha“, die in den 1990er Jahren veröffentlicht wurden, erschienen nur die ersten beiden in deutscher Übersetzer. Jetzt endlich hat der Heyne Verlag alle drei Romane in einem Sammelband mit fast 1300 Seiten Umfang auf den deutschen Markt gebracht. Der Titel des wuchtigen Werkes: „Die Vampire“.
Im ersten Roman findet sich der Leser im London Ende des 19. Jahrhunderts wieder. Vlad Tepes ist es gelungen, den Kampf gegen Abraham Van Helsing, Arthur Holmwood und all die anderen zu gewinnen. Als Gemahl Königin Victorias will der Blutsauger erst über England und dann über die ganze Welt herrschen. Bram Stoker wurde ins Gefängnis gesteckt, Draculas Widersacher getötet oder in Vampire verwandelt. Nur Dr. Seward, der Arzt der Nervenheilanstalt, konnte sich retten, leidet unter all den Vampiren, die durch Draculas dunklen Kuss in England entstanden sind, jedoch Qualen. Vampirghettos, in denen hungrige Blutsauger ihr Dasein fristen, Vampirhuren, die sich für etwas Blut verkaufen, und arrogante Älteste, die ohne Zögern töten, überschwemmen London und verändern die Welt, wie sie bisher Bestand hatte. Die Karpatische Garde geht gnadenlos gegen „Warmblüter“, also normale Menschen, vor, Pfählungen sind an der Tagesordnung.
Als sei das Zusammenleben von Menschen und Vampiren in dieser düsteren Zeit nicht schon schwer genug, beginnt ein Unbekannter, scheinbar wahllos Vampire zu töten. Ist es ein Warmblüter mit unbändigem Hass auf die Blutsauger oder gar ein Vampir, der seine eigenen Artgenossen tötet? Charles Beauregard, Mitglied des Diogenes-Clubs, einer geheimen Institution der Krone, wird auf den Fall angesetzt. Zusammen mit der Vampirältesten Geneviève Dieudonné, die im Körper eines sechzehnjährigen Mädchens gefangen ist, versucht er, zu ergründen, wer für die Morde verantwortlich ist – und wer hinter dem Pseudonym „Jack the Ripper“ steckt ...
Doch dort endet die Geschichte nicht. Das zweite Buch spielt einige Jahrzehnte später, zur Zeit des Ersten Weltkriegs, während der dritte Roman im Italien der 1950er und 1960er Jahre spielt. Allen gemeinsam ist, dass Vlad Tepes stets die Rolle des bösen Widersachers innehat, der versucht, die Herrschaft an sich zu reißen. Nicht alle seine Gegner aus dem ersten Roman überleben die Ereignisse in London, Warmblüter werden zu Vampiren, die Seiten werden gewechselt und es gibt einige überraschende Wendungen im Geschehen, deshalb soll hier nicht mehr über den Inhalt verraten werden.
Kim Newman legt mit den drei Romanen ambitionierte Werke vor, die sowohl innovativ und aufregend als auch anspruchsvoll und bisweilen sperrig geraten sind. Zunächst einmal zum Positiven, denn davon hat der Sammelband einiges zu bieten: Newman gelingt es, die historische Welt des 19. und 20. Jahrhunderts realistisch und ohne Klischees einzufangen. Ob das dreckige London, Europa im Ersten Weltkrieg oder Rom in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die Atmosphäre nimmt den Leser rasch gefangen und kann glaubwürdig dargestellt werden.
Vor allem jedoch der Weltenentwurf, den Newman vorstellt, ist beeindruckend. Hier prallen nicht zwei völlig unvereinbare Rassen aufeinander, die sich in einem fort bekriegen und einen endlosen Krieg damit heraufbeschwören. Menschen und Vampire haben gelernt, miteinander und nebeneinander zu leben – gewiss, die Unruhen zwischen den Rassen sind stets unübersehbar, Rassismus und Mord sind an der Tages- beziehungsweise Nachtordnung. So viele gute Einfälle hat der Autor eingebaut, dass es für jeden Vampirfan eine wahre Freude ist, diesen gemeinsamen Alltag von Warmblütern und Blutsaugern zu erleben, der oftmals so beiläufig wie glaubwürdig geschildert ist.
Zudem werden Leser mit umfassender literarischer Allgemeinbildung eine Unmenge an realen und fiktiven Figuren entdecken. Von Bram Stoker, dessen Geschichte ja mehr oder weniger weitererzählt wird, und Dr. Jekyll über Kaiser Wilhelm II. und Manfred von Richthofen bis hin zu Simone de Beauvoir und Audrey Hepburn geben sich hier die bekannten Persönlichkeiten die Klinke in die Hand – mal als Mensch, mal als Vampir und in einer für sie gänzlich unpassenden Zeit.
Neben all diesen Figuren dürfen natürlich die eigentlichen Protagonisten nicht vergessen werden, derer es mehr als genug gibt. Polizisten, Männer der Karpatischen Garde, adlige Menschen, Vampirprostituierte und und und ... die Liste der mehr oder weniger wichtigen Charaktere – die Newman auch schon mal ohne zu zögern leiden lässt – ist lang. Eine Auflistung am Ende des Buches hätte es dem Leser wesentlich erleichtert, sich in der Geschichte zurechtzufinden, die vor Ideen und Ereignissen nur so übersprudelt. Zudem werden die Charaktere nicht langsam eingeführt, sodass der Leser sie nach und nach alle kennenlernt; teilweise verliert man regelrecht den Überblick bei all den Namen, Geschehnissen und Fronten. Die ersten hundert Seiten etwa sind regelrecht sperrig, und es braucht seine Zeit, bis man sich richtig eingelesen hat. Dann jedoch erwartet einen eine Fülle an Abenteuern, teils blutig, teils spannend, die für vergnügliche Lesestunden sorgen.
Ambitioniert, anspruchsvoll und innovativ: „Die Vampire“ ist beste Lesekost für Fans der Blutsauger. Dass der Wälzer vor allem zu Anfang etwas sperrig ist, mag dem atemlosen Geschehen und den zahllosen Charakteren geschuldet sein. Fantasyfans jedenfalls werden hier voll auf ihre Kosten kommen.