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Die Matrix ist ein unverzichtbarer Bestandteil jedes Cyberpunksettings, so auch von "Shadowrun", das seit Neustem bei Pegasus erscheint. Mit der vierten Regeledition änderte sich vor allem dieser Aspekt der sogenannten "6. Welt" ganz erheblich: Aus dem knotenbasierten Spielplatz für Decker wurde die Wireless-Matrix, die sich an jedem Ort abbildet und von jedem Charakter mit einem Kommlink abgerufen werden kann. Der gewöhnliche Runner benutzt dazu Datenbrille, Trodennetz und Datenhandschuh, der gediegene Hacker hat natürlich eine Datenbuchse, die ihm die elektronischen Signale direkt ins Hirn speist. Und dann wären da noch die Technomancer ... und genau um die geht es in "Emergenz - Digitales Erwachen".
Der Auftritt der Technomancer stellt den wohl gravierendsten Einschnitt in der Welt von Shadowrun seit dem großen Matrixcrash dar. Viele der damaligen Opfer (sofern sie überlebten) litten unter dem AIP-Syndrom, das zu schweren psychotischen Beeinträchtigungen führte. Alpträume, Flashbacks, Halluzinationen - das volle Programm! Einige AIPS-Kranke merkten nach einer Weile, dass ihr Geist sich grundlegend gewandelt hat - sie können die elektrischen Signale der Wireless-Matrix mit ihren Gehirnen empfangen, ganz ohne Datenbuchse oder Trodennetz. Nicht nur das, auch andere Menschen weltweit werden quasi über Nacht zu Technomancern, darunter Matrixkünstler, Hacker, Shadowrunner, aber auch gewöhnliche Squatter oder Hirten am Himalaya. Die Technomancer sind überall, und ihre Fähigkeiten können explosionsartig zum Vorschein kommen und ganze Systeme zum Absturz bringen. Ganze Hochhäuser und Flughäfen kollabieren, ein Hospital geht in die Luft, Chaos herrscht in den Straßen ... kein Wunder, dass nun die Norms (die "normale" Bevölkerung) Angst bekommen. Ihr Hass, geschürt von sensationsgeilen Medien, Rassisten und Traditionalisten, entlädt sich in einer Hexenjagd auf Technomancer (und alle, die für solche gehalten werden). Zugleich tobt hinter den Kulissen ein erbitterter Kampf zwischen den Konzernen, die sich die Fähigkeiten der Technomancer zunutze machen wollen. Extraktionen, ethisch bedenkliche Experimente, jede Menge Wetwork und somit alle Hände voll zu tun für die Shadowrunner.
"Emergenz" kommt als eine Mischung aus Quellenbuch und "Abenteuersteinbruch" daher. Erzählt wird eine Storyline, die sich von den ersten Gerüchten um Technomancer und die chaotische Entladung ihrer Fähigkeiten bis zur progromartigen Jagd auf sie steigert. Die Ereignisse der geschilderten Monate wird in einer collagenartigen Form aus Medienschnipseln, Interviews, Berichten und versteckten Files erzählt, das alles bgeleitet und kommentiert von wildem Shadowtalk, wo sich Runner jeder Couleur gegenseitig beharken. Im Anschluss daran werden kurze Abenteueransätze genannt, wie sich die Ereignisse im Spiel umsetzen lassen. Etwa in der Hälfte des Buchs wird auch das zweite Geheimnis der neuen Matrix enthüllt: die Künstlichen Intelligenzen (K.I.) der alten Generation sind zwar im Crash untergegangen, doch eine neue Generation von virtuellem Leben zeigt sich, darunter der terroristische Sojourner, der eine ganze Raumstation kapert, der vermittelnde Pulsar, der sich mit den Menschen versöhnen will, und wilde, tierhafte K.I.s, die in den Wirelessknoten ihr Unwesen treiben. Ob sie mit den Technomancern im Bunde stehen, sei an dieser Stelle nicht verraten; und auch nicht, was mit dem berüchtigten Deus (dem K.I.-Obermotz der alten Matrix) wirklich geschah.
Das Buch steckt also voller guter Ideen, und der Ansatz, die Matrix mehr in den Mittelpunkt zu rücken und durch Technomancer aufzupeppen, ist ohne Zweifel gut. Die Umsetzung kann allerdings nicht überzeugen. Die Ereignisse lesen sich trocken, die Abenteuerskizzen sind knapp und inspirationslos. In fast allen vorgestellten Szenarien müssen die Runner Technomancer aufspüren, vor Konzernen beschützen, sie verstecken, an Terrorakten hindern oder von A nach B transportieren, wobei meist private Schicksale und Konzernmachenschaften im Hintergrund stehen. Klingt nicht originell? Ist es auch nicht. 80 Prozent der vorgestellten Szenarien könnte sich wohl jeder Spielleiter selbst aus den Fingern saugen; er müsste nur die Elemente "Mr. Johnson", "Technomancer", "Konzern A" und "Konzern B" in eine sinnvolle Reihenfolge bringen. Der Sense of Wonder fehlt, was bei so spannenden Themen wie Technomancern und Künstlichen Intelligenzen eigentlich verwunderlich ist. Es wäre wohl sinnvoller gewesen, drei oder vier ausführlichere und ausgearbeitete Szenarien abzudrucken als diese Masse aus groben Bauklötzen, die der Spielleiter selbst zusammenbauen muss.
Am meisten überzeugt überraschenderweise das letzte Kapitel, das die deutsche Redaktion angehängt hat ("Von Vogelscheuchen und Schwarzen Männern"). Darin wird ein Blick auf die ADL (Allianz Deutscher Länder) gewagt, in der ausgerechnet die berüchtigte Deutsch-Katholische Kirche Westfalens eine Allianz mit den Technomancern eingeht und ihnen die Pforten des schwerbewachten Bistums öffnet. Kirchenintrigen, eine Engelserscheinung, ein umstrittenes Edikt und ein Matrixkreuzzug bringen jene Farbe ins Spiel, die man im restlichen Buch vermisst hat.
"Emergenz - Digitales Erwachen" enthält eine faszinierende Plotline und jede Menge guter Ideen, die vor allem matrixinteressierte Spielgruppen ansprechen dürfte und eine angenehme Abwechslung von Insektengeistern und Drachen darstellt. Die Umsetzung enttäuscht jedoch; die Mischung aus spielinternen Quellen, häufig belanglosem Shadowtalk und lahmen Abenteuerskizzen sowie die eher einfallslose Ausarbeitung rauben einem die Lust, das Buch am Spieltisch einzusetzen. Eigentlich schade bei einer solch exzellenten Grundidee. Wer trotzdem Technomancer und die neuen K.I.s im Spiel verwenden möchte, kommt eventuell auch mit den Informationen im Matrixhandbuch "Vernetzt" aus und kann sich diesen Kampagnenband sparen.