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Was hat man in den letzten Jahren nicht für Paradigmenwechsel heraufbeschworen. Man sprach von ‚spatial turn’, oder – weniger kryptisch – auch von der Rückkehr des Raumes (natürlich nur als Forschungsgegenstand, ansonsten ist der Raum ja nie verschwunden); ja, in kruden Fällen hört man vom neuen Paradigma ‚Sprache’ (Insider gähnen hier, da hundert Jahre alt), von der Wende zur Pragmatik (fünfzig Jahre alt), von der Abkehr von der Theorie (Dumme gab’s schon immer); man hört sogar vom Paradigma einer neuen ethnischen Diversifizierung (also einer Legitimation des Rassismus?).
Gibt es überhaupt etwas Neues in der Wissenschaft, ein Feld der Untersuchung, das Kräfte bündelt, das interdisziplinär fasziniert? Gibt es ein Objekt, das einen Problem- und Suchraum eröffnet? Nun, tatsächlich gibt es ein solches. Es ist die Erzählung.
Rein materiell mag man dies daran feststellen, dass die Erzählung nach und nach aus dem engen Kreis der Literaturwissenschaften herausgetreten ist, dass sich in den letzten fünfzehn Jahren mehrere interdisziplinäre Forschungsstellen zur Narratologie, zur Erzählforschung, gegründet haben, dass die EU zahlreiche Projekte dazu finanziell unterstützt. Und natürlich gibt es mittlerweile viele Bücher zum Thema.
Dieses von Christian Klein und Matías Martínez herausgegebene Buch gibt einen aktuellen Bericht über Forschungsergebnisse zu einzelnen Sparten unserer Gesellschaft. Sparten, man könnte es - und die Herausgeber machen dies auch - Systeme nennen. Die Sparten oder Systeme, die hier in zwölf Artikeln behandelt werden, sind das Recht, die Medizin, die Wissenschaft, die Geschichte, die Wirtschaft, die Moral, der Journalismus, die Religion, die Politik, die Kollektiverzählung und die Internetveröffentlichung. Ob diese Einteilung legitim ist, soll weiter unten betrachtet werden. Zunächst dient bei der Einteilung die Theorie autopoietischer Systeme von Niklas Luhmann als Leitfaden, lässt dabei aber wichtige Systeme unter den Tisch fallen, wie die Kunst, das Erziehungssystem, die Organisation und die Interaktion, während die Massenmedien in Journalismus, Kollektiverzählungen und Internetveröffentlichung aufgeteilt werden, und mit Medizin und Geschichte Mischerscheinungen thematisiert werden.
Was nun sind Wirklichkeitserzählungen? Wirklichkeitserzählungen sind Erzählungen, die auf die Wirklichkeit verweisen. Im Gegensatz zu zahlreichen Romanen, die fiktional sind, behaupten Wirklichkeitserzählungen, dass es so oder so in der Welt geschehen ist. Sie wollen wahr sein. Und darin steckt für die Autoren auch schon der springende Punkt. Wahr sein zu wollen heißt noch lange nicht, dass diese Wahrheit auch existiert. Doch zumindest in der Wissenschaft kann man über diese Wahrheit nur dann auch reden, wenn man zunächst die Funktion von Erzählungen unter die Lupe nimmt. Was wollen Erzählungen, wenn sie wahr sein wollen? Dies scheint das einende Band aller Artikel in diesem Buch zu sein.
Im ersten Artikel führen die beiden Herausgeber in das Thema ein. Hier problematisieren Klein und Martinez die Unterscheidung von erfundenen und wahren, von fiktionalen und faktualen Geschichten. Ist Truman Capotes Buch
Kaltblütig ein Roman, der eine wahre Geschichte nacherzählt (ähnlich wie Peter Leuschners Buch
Der Mordfall Hinterkaifeck)? Ist der
Don Quixote ein fiktionaler Roman, der sich faktual gibt? Und da es bei diesen Büchern offensichtlich ist, wo ist die Grenze, wo die Möglichkeit, dies noch zu unterscheiden?
Der zweite Artikel, den Andreas von Arnauld zum
Erzählen im Rechtskontext geschrieben hat, ist einer der schönsten in diesem Band. Von Arnaulds Text wird schon da brisant und faszinierend, wenn er zwischen den Erzählmodalitäten verschiedener Rechtssysteme vergleicht: während das deutsche zwar den Erzähler als Person herausstreicht (so dass hier scheinbar das Rechtssystem sich selbst erzählt), wird in Frankreich die Narration ganz gestrichen und statt dessen deduziert, während in England viel Platz für die persönliche Erzählung gelassen wird. Damit bringt er, über einen gleichsam ethnomethodologischen Umweg, die Betrachtung des deutschen Rechtssystems unter Vergleichsdruck. Es ist zwar Recht, was in Deutschland Recht ist, aber in anderen demokratischen Ländern wird Recht anders gesprochen, anders legitimiert, anders verhandelt. Auch im Weiteren bleibt der Autor sehr pointiert, und vereint eine gewisse ironische Süffisanz mit einer umfassenden Belesenheit und strengen Argumentation.
Brigitte Boothe stellt im dritten Artikel das
Erzählen im medizinischen und psychotherapeutischen Kontext dar. Dieser Artikel bietet eine gute Übersicht über die Forschungsentwicklung und Methoden der letzten zwanzig Jahre.
Einen weiteren, äußerst interessanten Gesichtspunkt erläutert Christina Brandt in ihrem Artikel
Narrative Strukturen im naturwissenschaftlichen Diskurs. Gleich zu Beginn zitiert sie den amerikanischen Philosophen Joseph Rouse, der den Lehrstuhl für
Science in Society an der Wesleyan University in Connecticut besetzt. Dieser legt nahe, die Wissenschaft nicht nach vollendeten Erzählungen zu untersuchen, sondern nach Erzählungen, die noch in Konstruktion sind. So sei die in aktuellen wissenschaftlichen Erzählungen eingelagerte Tendenz „the fulfilment of a projected retrospective“, die in dieser knappen Formulierung stark ans futur antérieure des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan erinnert. Werden Geschichten in ihrem Entstehen vorausgreifend weiter erzählt, können diese wiederum in einer weiter gefassten Geschichte verstanden werden. Diesem Ansatz folgt die Autorin auf spannende Weise, ohne hier diesem Gedanken in der Breite nachgehen zu können.
Stephan Jaeger erläutert in seinem Artikel mit Referenz auf Hayden Whites Annahme, geschichtliche Ereignisse machten nur in geschichtlichen Erzählungen Sinn, aber auch mit Rekurs auf Paul Ricœurs Mimesis II-Begriff, historische Erzählungen seien sowohl rekonstruktiv als auch schöpferisch. Jaeger stellt nicht nur einen möglichen Theorieansatz vor, sondern diskutiert sowohl geschichtswissenschaftliche Untersuchungen über Erzählungen, und stellt die Methode knapp an einem Geschichtswerk vor – Jörg Friedrichs Buch Der Brand -, das zahlreiche narrative Züge trägt.
Erzählen im ökonomischen Diskurs – so lautet der Titel von Bernhard Kleebergs Aufsatz. Kleeberg erläutert anhand übergeordneter Erzählmuster – im Besonderen nennt er Explikation, Prognose, Erklärung und Legitimation – verschiedene Erzählweisen mit Bezug auf das Wirtschaftssystem. Die Betrachtungsweise, die dieser Artikel vorschlägt, ist eigentlich nicht so überraschend, wird aber dann – gesamtgesellschaftlich - brisant, wenn man in der Wirtschaft die Tendenz sieht, sich von Außenperspektiven zu lösen. Ökonomie als Literatur zu betrachten, führt hier, weniger kritisch, dafür wissenschaftlicher, die frühen Tendenzen von zum Beispiel Walter Benjamin (Passagen-Werk) oder Guy Debord (Die Gesellschaft des Spektakels) fort.
Christian Klein stellt Forschungsergebnisse zum
Erzählen im moralisch-sittlichen Diskurs vor. Hierbei beschränkt er sich weitestgehend auf Sittlichkeitsratgeber, klassischerweise dem Knigge, und Ulrich Wickerts Bestseller Der Ehrliche ist der Dumme. Den interessantesten Ansatz bietet Klein allerdings erst nach der Analyse dieser Bücher, nämlich dann, wenn er im Anschluss an Foucault fragt, inwieweit (moralisierte) Sprechgebote zum (moralischen) Restriktions“system“ unserer Gesellschaft gehören, ja es vielleicht erst etablieren.
Matías Martínez steuert einen Artikel zum
Erzählen im Journalismus bei, der zum einen auf Günther Wallraffs Reportagen eingeht, um anschließend zwei Grenzgänger zu betrachten: Truman Capote und Tom Kummer. Vergleicht man Martínez Artikel mit dem von Doris Tophinke – Wirklichkeitserzählungen im Internet – ergeben sich interessante Parallelen und Ergänzungen. Martínez geht auf vollendete Geschichten ein, die er selbst als vollendete Geschichten erzählen kann, während Tophinke auf Geschichten im status nascendi referiert, also solche, die sich zum Beispiel durch tägliche Blogeinträge nach und nach generieren.
In diesem Rahmen ordnet sich auch Roy Sommers Ausführung über
Kollektiverzählungen ein. Kollektiverzählungen sind massenmedial verbreitete und massenhaft konsumierte Erzählungen, wie etwa große Kinogeschichten (Spielbergs E.T.) oder besonders erfolgreiche Bücher (Harry Potter) oder besonders stark beobachtete Personen (Barack Obama), schließlich aber auch die Werbung und die Selbstdarstellung eines Produktes oder eine Firma in und durch Werbung. Angesichts einer solchen Fülle bleibt Sommer notwendigerweise exemplarisch und liefert vor allem neue Impulse.
Der christlich-religiöse Diskurs wird von Andreas Mauz beleuchtet. Nach Darstellung von vier typischen Erzählformen im Christentum (Konversions-/bzw. Bekehrungserzählung, Predigt, Gebet, Evangelien) werden ein historischer (biblischer) Text und eine moderne christliche Erzählung untersucht. Von allen Artikeln im Band könnte man Mauz’ Beitrag als den dürftigsten bezeichnen. Das allerdings kann kaum dem Autor zur Last gelegt werden. Angesichts eines so traditionell an Erzählweisen und Exegese von Erzählweisen ausgerichteten sozialen Phänomens wie der Religion, angesichts so bedeutender und gut erforschter Dokumente wie den Confessiones von Augustinus, den Essais von Montaigne, Erasmus von Rotterdam, nicht zuletzt dem immer wieder erzählten Schicksal von Galileo, dürfte jeder noch so kluge Kopf verzweifeln. Mauz verzweifelt nicht, sondern wählt scharf aus. Schade allerdings ist, dass er nicht stärker moderne esoterische Phänomene mit thematisiert.
Last, not least, betrachtet Gary Schaal
Narrationen in der Politik. Der Autor untersucht die Funktionen von storytelling (Geschichten erzählen) und testimony (Zeugnis ablegen) anhand der in Demokratien vorfindlichen Machtasymmetrien. Nach einer kritischen Diskussion neuerer Forschungsliteratur bespricht er ganz zum Schluss die Auswirkung politisch etablierter Paradigmen auf die Ordnung von sozialen Diskursen und politischen Erzählungen am Beispiel der Ich-AG, und beendet damit einen hervorragend wissenschaftlichen Artikel mit einer zurückhaltenden, aber deshalb vielleicht umso brisanteren Polemik.
Es ist schwierig, ein Buch zu beurteilen, das vielfältige gesellschaftliche Prozesse berührt und eine solche Vielfalt an Methoden und Werkzeugen vorstellt, auch wenn dies immer wieder durch das Nadelöhr der Erzählung passiert. Insgesamt ist das Buch so anregend, dass man es alleine deshalb empfehlen kann. Eine gut ausgewählte, weiterführende Literaturliste am Ende jedes Artikels ermöglicht dem Leser die Vertiefung.
So gibt dieses Buch zwar keinen umfassenden Überblick - da müsste man auf ein Monumentalwerk, wahrscheinlich zwanzigbändig, warten -, aber einen fundierten Einstieg in die Narratologie. Dieser Einstieg ist dann allerdings an konstruktivistisch-pragmatischen und (post-)hermeneutischen Ansätzen festgemacht. Die Anbindung an die Systemtheorie Luhmanns erfolgt eher oberflächlich. Dass die Systemtheorie hier nur oberflächlich genutzt wird, sieht man nicht nur daran, dass etliche wichtige Systeme nicht thematisiert werden, sondern dass die mögliche Funktionalität von Erzählungen über Systemgrenzen hinweg – Stichwort: strukturelle Kopplung - zwar bei einigen Artikeln rasch anschließbar ist, aber nicht explizit bedacht wird. Allerdings muss man feststellen, dass von Seiten der Systemtheorie der Forschungsstand zur Narration äußerst dürftig ausfällt. Können die anderen etablierten Theorien schon über ein Forschungsdefizit klagen, so scheint es bis auf wenige Ausnahmen keinerlei fundierte Beiträge für funktionale Systeme zu geben.
In diesem Sinne sollte man dann auch den Sammelband verstehen: an der aktuellen Front der Forschung, gleichsam im Grenzgebiet zu einer weitestgehend unentdeckten Welt. So ist dieses Buch nicht nur ein kompetenter Ausschnitt aus der aktuellen Diskussion, sondern auch eine hervorragende Basis für weiter gefasste Forschung.
Einzige Ausnahme bildet der Artikel von Brigitte Boothe: Die Grand Dame der psychoanalytischen Erzählforschung hat den Blick rückwärts gewandt, sichert Tatbestände und Ergebnisse. Das macht Boothe, wie gewohnt, hervorragend. Hier ist die Psychoanalyse noch mit jedem Satz Wissenschaft und nicht Mode. Die Autorin enttäuscht aber, wenn man auf innovative Impulse aus ist.
Fazit:
Wer sich noch nicht gründlich mit der Narratologie auseinandergesetzt hat, wird mit diesem Buch neben breit gefächerten Theorieangeboten ein weites Spektrum an Anwendungsfeldern finden, die fundiert einführen und vertiefen.