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Kyle McAvoy ist ein junger Jurastudent, der nach dem Studium an einer Eliteuniversität nun kurz vor seiner Anwaltszulassung steht und eine vielversprechende Karriere vor sich hat. Der Tradition seines Vaters folgend, will Kyle sich zunächst einige Jahre für sozial benachteiligte und mittellose Klienten engagieren, ein Job, der zwar wenig Geld, aber viel Befriedigung bringt.
Doch es kommt anders: Eines Abend fangen mehrere dunkle Gestalten Kyle ab und unterbreiten ihm ein „Angebot“, das sich rasch als beinharte Erpressung herausstellt. Kyle bekommt ein Handyvideo präsentiert, das vor Jahren auf einer ausgelassenen Party einer Studentenverbindung aufgenommen wurde. Ein Mädchen, das auf der Party war, behauptete später, von mehreren Männern vergewaltigt worden zu sein – unter ihnen auch Kyle. Obwohl das Video keinen eindeutigen Beweis zeigt, ist es mehr als geeignet, Kyles Ruf und vor allem seine Karriere als Anwalt zu zerstören. Damit das Video nicht an die Öffentlichkeit gelangt, soll Kyle einen hochbezahlten Job in der größten Anwaltskanzlei der Welt annehmen – und dann Betriebsspionage betreiben. Ein Prozess, in dem es um Kriegstechnologie und Milliarden von Dollar geht, wird derzeit vorbereitet und Kyle soll dabei eine entscheidende Rolle spielen. Er muss eine folgenschwere Entscheidung treffen …
Der US-amerikanische Rechtsanwalt und Bestsellerautor John Grisham hat sich vor allem mit seinen zahlreichen Justizthrillern einen Namen gemacht. Nach Titeln wie „Die Jury“, „Die Firma“, „Die Akte“, „Der Partner“, „Der Richter“ oder „Der Klient“ überrascht also auch der Titel seines neuen Romans nur sehr wenig. Die Ausgangssituation ist extrem spannend, denn der Protagonist befindet sich schon nach wenigen Seiten in einer furchtbaren Zwickmühle, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Sein zukünftiges Leben wird zerstört, er muss seine Ideale verraten und das tun, was er eigentlich verabscheut: für eine der größten Kanzleien der Welt unter furchtbarsten Bedingungen arbeiten und, was noch viel schwerer wiegt, Spionage für eine gegnerische Kanzlei betreiben. Doch Kyle will sich nicht unterkriegen lassen und versucht, seine Erpresser seinerseits auszutricksen …
Der Einstieg, den Grisham gewählt hat, ist ungemein spannend und packend, was auch am flüssigen und routinierten Schreibstil des Autors liegt. Zu Beginn ist „Der Anwalt“ noch ein echter Pageturner. Danach aber lässt das Tempo spürbar nach. Die Schilderungen aus der menschenverachtenden Tretmühle der riesigen Kanzlei sind zu Beginn noch durchaus spannend, weil Grisham hier Insiderwissen preisgibt. So schlafen viele der frischgebackenen Anwälte in Schlafsäcken unter ihrem Schreibtisch, weil Arbeitszeiten von mehr als 100 Stunden pro Woche durchaus Pflicht sind. Geld für lächerlich teure Geschäftsessen, Partys und Limousinen wird in unglaublichem Maße verpulvert und die Stundensätze, die die Anwälte und Partner der Kanzlei einstreichen, sind jenseits von Gut und Böse.
Dabei verliert Grisham allerdings mehr und mehr die Story aus den Augen, zumindest passiert nicht sehr viel, ja eigentlich fast gar nichts. Irgendwann, etwa auf Seite 300 von insgesamt 447, beginnt man zu denken, dass es nun ja endlich mal losgehen könnte mit der Spionage und weiteren Verwicklungen – oder überhaupt mit irgendetwas, das Abwechslung bringt. Erst etwa 100 Seiten vor Ende des Romans kommt Kyle endlich in die Nähe des Prozesses, um den es eigentlich geht, und darf ein bisschen tätig werden. Bis hierher ist alles eigentlich nur Vorgeplänkel, und auch der anfängliche Reiz der irrwitzigen Schilderungen aus dem Leben reicher und erfolgreicher Anwälte lässt spätestens hier rapide nach – flüssiger Schreibstil hin oder her. Dann wird es noch mal kurzzeitig ein bisschen spannend, und dann ist der Roman zu Ende. Ungläubig liest man die letzte Seite und fühlt sich vom Autor verschaukelt, und das ist noch höflich ausgedrückt. Hat Grisham die Lust am Schreiben verloren? Sind ihm die Ideen ausgegangen? Man weiß es nicht – doch das Ende wirkt so stark abgewürgt, dass einem wirklich die Lust vergeht. Fest steht aber, dass Grisham nicht, wie die "New York Times" auf dem Umschlag verheißt, auf dem Höhepunkt seines Schaffens ist, eher im Gegenteil - zumal "Der Anwalt" auch noch streckenweise sehr stark an "Die Firma" erinnert und vieles fast 1:1 aufgreift (Stichwort Totalüberwachung, verwanzte Häuser und Hotelzimmer, Wichtigkeit der aufgeschriebenen Anwaltsstuden und so weiter).
Fazit: John Grisham kann zweifellos handwerklich gut schreiben, doch mit „Der Anwalt“ hat er sich verzettelt. Nach einem sehr packenden Einstieg sinkt die Spannung rapide, bis irgendwann fast gar nichts mehr passiert, zumindest nichts, was den Leser vom Hocker reißen könnte. Leider kann dieser Justizroman die hohen Erwartungen, die der Name Grisham mit sich bringt, nicht erfüllen. Das Ende für sich genommen ist eigentlich eine Unverschämtheit und empörend lieblos - knapp 450 Seiten viel Lärm um nichts!