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Das "Meer der Geschichten" hat der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie, vor allem bekannt durch seinen vieldiskutierten Roman "Die satanischen Verse", schon manches Mal überquert, durchmessen, erkundet, besungen. Bei seinem neuesten literarischen Streich hat Rushdie allerdings mit voller Kelle daraus geschöpft. "Die bezaubernde Florentinerin" ist ein üppiges, farbenfrohes Werk, in dem sich Legenden und Märchen, Erzählungen und Anekdoten aus Orient und Okzident, aus Ost und West in so bezaubernder Weise mischen, dass man als Leser nur eines kann - staunen.
Angesiedelt ist Rushdies bunte Fabel im 16. Jahrhundert. Ein Reisender in einem Flickenmantel - Scharlatan, skrupelloser Dieb, Verführer und Geschichtenerzähler gleichermaßen - geht von Bord eines Piratenschiffs, dessen Kapitän er soeben um unermessliche Schätze, sein Leben und einen wertvollen Brief der englischen Königin gebracht hat. Mit diesem Brief verschafft er sich Zutritt am Hof eines märchenhaften Moguls, der in einer mehr phantasierten denn realen Stadt residiert und in wehmütiger Liebe zu einer imaginären Haremsdame gefangen ist. Ihn wickelt der raffinierte Dreiste um den Finger, indem er des Moguls Schwäche für gute Geschichten nutzt und ihm jeden Abend - wie Sherezade einst ihrem Sultan - eine nach der anderen ins Ohr wispert: verbotene Märchen, Robinsonaden, Geisterschwänke, vor allem aber Geschichten aus seiner italienischen Heimat. Denn der Fremde ist Niccolo Vespucci, Bruder des berühmten Amerigo Vespucci, nach dem der amerikanische Kontinent benannt wurde. Im Sog dieser sich ewig abwechselnden, aufeinander beziehenden Geschichten beginnt sich auch das Verhältnis zwischen Mogul und Reisendem umzukehren - Vespucci beherrscht seinen Zuhörer mit der Macht seiner Worte, und dieser reist in Gefilde, die ihm bislang verborgen waren.
Auch dieser Roman Rushdies zeigt wieder das unerhörte Erzähltalent des Briten. "Die bezaubernde Florentinerin" bezaubert von der ersten Seite an, reißt mit, lässt einen staunen, lachen, pikiert aufblicken und an manchen Stellen gar weinen. Was macht es da schon, dass dem Roman ein wenig der rote Faden fehlt? Der Schatz an Geschichten, den Rushdie hier an seinen Leser weiterreicht, ist unbezahlbar, und der wunderbare Stil, in dem er ihn vor seinem Publikum ausbreitet, eine Wohltat. Eines der schönsten Bücher des Jahres, das einen ebenso bezaubert wie Niccolo Vespucci den Mogul.