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In seinem neuen Sachbuch „Epigenetik – Wie Erfahrungen vererbt werden“ fasst Bernhard Kegel zusammen, welche Erkenntnisse rund um den Globus auf dem Feld des oft als „Lamarckismus“ bezeichneten Theoriegebäudes erarbeitet werden. Er legt ausführlich dar, inwieweit Erfahrungen, die eine Pflanze, ein Tier oder der Mensch während seines Lebens oder in einer bestimmten sensiblen Phase macht, in seinen Genen, seinem Genom oder einer anderen biochemischen Struktur festgeschrieben und vererbt werden.
Kegel beginnt mit dem weltweit Aufsehen erregenden Fall der Forschungsergebnisse, die man aus Datenmaterial von Menschen aus Överkalix gewonnen hat. Diese schwedischen Bauern hatten vor einem Jahrhundert ein sehr hartes, entbehrungsreiches Leben. Da sämtliche Sterberegister und weitere Statistiken über die landwirtschaftlichen Erträge über viele Jahrzehnte festgehalten wurden, konnten die Forscher herausfinden, dass eine Hungersnot im Leben der männlichen Bewohnern von Överkalix zu einer höheren Lebenserwartung ihrer Enkeln führte, während eine vergleichsweise gute Ernährungslage die Enkel wiederum früher sterben ließ.
Eine Erfahrung beeinflusste also über die männliche Vererbungslinie die Lebenserwartung der Enkel. Ein unter Anhängern der geltenden Theorien zu Evolution und Genetik undenkbarer Vorgang.
Weiterhin führt Bernhard Kegel aus, welche Moleküle, welche Strukturen für diese Bewahrung von Erfahrungen verantwortlich sein könnten. Es sind seiner Meinung nach – und er fasst hier weltweite Studien der letzten Jahre zusammen – einmal die unterschiedliche Methylierung der DNA, des Weiteren die Positionierung der Nukleosomen, weiterhin die Modifikation von Histonschwänzen und nicht zuletzt der Einbau von Histonvarianten und darüber hinaus die diversen RNAs, die ebenfalls epigenetisch, also unabhängig von der Basensequenz der DNA, nach ihrer Exprimierung verändert werden.
Dieses Buch ist vor allem eins, es ist mühsam zu lesen. Das ist notwendigerweise so, denn Bernhard Kegel versucht nichts weniger, als eine gigantische Umwälzung in tausenden Forschungslabors und zehntausenden Wissenschaftlern, die an diesen Entdeckungen mitarbeiten, festzumachen. Er versucht zu verdeutlichen, dass diese Forscher gegen den extremen Widerstand der etablierten Wissenschaftler ankämpfen müssen und wie dünn das Eis ist, auf dem sich die neuen Thesen und Theorien bewegen. Immer besteht die Gefahr, übers Ziel hinauszuschießen und Dinge zu behaupten, die man hinter dem gewaltigen weltweit zusammengetragenen Datenmaterial allenfalls erahnen kann. Das Risiko zum Gespött zu werden, ist groß, wenn sich vieles nach einer anderen Studie als nichtig und unsinnig und widerlegt herausstellt.
Zwar gelingt es Kegel immer wieder mit lockeren Sprüchen, netten Randbemerkungen und lässigen Zwischenbemerkungen, das Lesen aufzulockern und dieses Buch zu einem guten Sachbuch werden zu lassen, doch er führt zu viele Details auf, setzt viel zu viel Vor- und Fachwissen voraus, um dem Leser den enormen Spaß an dieser Sache vermitteln zu können, der den Autor selbst beherrscht. Man spürt es in jeder Zeile, er will vermitteln, erklären, darlegen. Doch dieser Versuch misslingt immer wieder, artet zu einer solchen Wissenshuberei aus, dass selbst dem Biologen und Schulgenetiker schwindelig wird. Um dieses Buch wirklich zu verstehen, muss man sehr viel von Genetik verstehen und gleichzeitig so offen sein, eigene Theorien über Bord werfen zu können.
Und dennoch, wer etwas über Epigenetik lernen will, muss diesen Kegel lesen, keine Frage, und kann dann in den nächsten Jahrzehnten verstehen, was diese Forscher antreibt und welche bahnbrechenden Erkenntnisse sich in unserer Zeit anzubahnen scheinen. Es ist fast so, als wäre man bei der Veröffentlichung des Buches „On the Origin of Species “ von Charles Darwin dabei gewesen und würde die wütenden Proteste der Fachwelt hautnah miterleben. Und die extremen Widerstände, die damals so wirksam waren wie heute, am eigenen Leib erfahren. Das sollte man nicht verpassen, auch wenn dieser Genuss mühsam ist und man ein gerüttelt Maß an genetischem Fachwissen dafür braucht.