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 Grenzfälle/Falling Barriers


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Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis
Pünktlich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls ist im Kerber Verlag ein Fotoband erschienen, in dem es um die innerdeutsche Grenze geht. Sechs Fotografen, die für die DDR-Wochenzeitschrift "Neue Berliner Illustrierte" arbeiteten, teilten die 1.393 Kilometer innerdeutsche Grenze und 156 Kilometer Berliner Mauer untereinander auf und versuchten, die Anlage so bald wie möglich nach der Grenzöffnung zu fotografieren, da ihnen bewusst war, dass die historisch einmalige Grenzbefestigung bald verschwunden sein würde. Als sie die Erlaubnis erhielten, war teilweise bereits mit dem Abriss begonnen worden, doch die Fotografen vermochten es, die innerdeutsche Grenze auf faszinierend vielseitige Weise zu dokumentieren.

"Grenzfälle" beginnt mit einem Essay des Journalisten Christoph Dieckmann, der sich mit dem Phänomen der Grenze und der Wiedervereinigung befasst. Daran schließen sich die Fotos von Gerhard Zwickert, Eberhard Klöppel, Peter Leske, Heinz Dargelis, Werner Schulze und Bernd-Horst Sefzik an. Der Abschnitt zu jedem Fotografen wird eingeleitet von einem Kartenausschnitt, der den im jeweiligen Kapitel portraitierten Grenzausschnitt und die relevanten Ortschaften angibt.

Auf die Fotografien folgen Kurzbiografien der Künstler sowie, vom Herausgeber T. O. Immisch verfasst, eine Erläuterung zu dem im Buch präsentierten Projekt der Fotografen. Im abschließenden Beitrag stellt der Kultursoziologe und –historiker Bernd Lindner "Charakteristik und Chronik der innerdeutschen Grenze und Mauer" vor, so der Titel des Essays.
Sämtliche Texte liegen in deutscher und englischer Sprache vor.

Die beeindruckenden Fotografien sprechen für sich, dennoch lohnt es sich, zunächst die Essays zu lesen, auch jene, die man im Buch hinter den Fotos findet. Denn die gewaltige Arbeit und Kreativität, die hinter dem Projekt steht, aber auch die Historie und die seltsame Mischung aus Bedrohlichkeit und Gewöhnung, die das Verhältnis zwischen der dokumentierten Anlage und der im Grenzgebiet lebenden Bevölkerung charakterisiert, werden nur so für den Betrachter – den jüngeren zumal – im Detail ersichtlich. Gehaltvoll und in angenehmem Stil erläutern die Textbeiträge die Hintergründe der Entstehung des Buchs und alles Wissenswerte zu seinem Gegenstand, der innerdeutschen Grenze.

Alle Fotografien wurden schwarz-weiß aufgenommen, häufig auf grobkörnigem Film. Beides unterstützt die Tristesse, die von den meisten Bildern ausgeht. Als Wunde, Narbe in der Landschaft wird die Grenze in einem der Essays äußerst passend beschrieben, und so stellt sie sich auch in etlichen Fotografien dar.

Wiewohl jeder Fotograf auf Aspekte der Grenze eingeht, haben doch alle sechs Künstler verschiedene Schwerpunkte. So beeindrucken etwa die Panoramen von Heinz Dargelis, die immer etwas von der scheinbaren Unüberwindbarkeit und schier unendlich wirkenden Länge des Zaunes wiedergeben. Andererseits findet man oft auch thematische Überschneidungen, etwa, wenn direkt am Zaun oder an der Mauer liegende private Gegenstände abgebildet werden, die eine Geschichte erzählen könnten: ein einst liebevoll eingekleideter, kaputter strohgefüllter Teddybär mit abgerissenem Kopf (an diesem Ort ein höchst makabrer Anblick) und ein ganz einfaches Maßband zum Beispiel. Oder "böse Augen", paarig angeordnete oder entsprechend aufgenommene düstere Fenster in Wachtürmen und Bunkern.
Die Vielfalt der möglichen Herangehensweisen, der entdeckten Motive und der gewählten Perspektiven fasziniert. Das geschleifte Toilettenhäuschen bringt den Betrachter womöglich zum Schmunzeln, Dummys in Gestalt westdeutscher Polizisten eher nicht. Grenzsoldaten, die recht desinteressiert durch ein Loch im "Antifaschistischen Schutzwall" schauen, von der Grenze zerschnittene Eisenbahnschienen und Flussläufe, der oft grotesk anmutende Grenzverlauf in Berlin; wiederkehrende Geometrien in Gitterzaun, Maschendraht, Verkabelung; wunderbare, von zauberhaftem Licht erfüllte, jedoch wie erwähnt von einer tiefen Wunde verletzte Landschaften; die Fotografen haben scheinbare Kleinigkeiten und große Zusammenhänge aufmerksam beobachtet und mit bemerkenswertem künstlerischem Gespür in Szene gesetzt und dokumentiert. Das zurückhaltend-elegante Layout und die hochwertige Verarbeitung des Buchs unterstützen die Wirkung der Bilder. Bis auf den jeweiligen Fotografennamen und gelegentliche Ortsbezeichnungen wurde im Fototeil auf Text verzichtet, sodass die Bilder uneingeschränkt zur Geltung kommen.

Informative, nachdenklich machende Texte und fesselnde Fotografien, die sowohl die Tragik der innerdeutschen Grenze als auch deren Rolle als Bestandteil des Alltagslebens vieler Menschen erfahrbar machen: ein wertvoller Bildband zu einem Projekt, das sowohl als historische Dokumentation als auch als künstlerische Verarbeitung der innerdeutschen Grenze aufgefasst werden kann.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 1. Oktober 2009 | ISBN: 978-3866783485 | Preis: 28,00 Euro | 160 Seiten | Sprache: Deutsch, Englisch

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