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Am 9. Juni 1865 geschieht in Staplehurst, England, ein tragisches Zugunglück, bei dem eine Bahn auf einer Brücke entgleist und ihre Waggons teilweise in einen Abgrund stürzen. Im vordersten Waggon sitzt, wie durch ein Wunder vollkommen unversehrt, der berühmte Schriftsteller Charles Dickens, schon damals der berühmteste Autor Englands, wenn nicht gar der Welt. Das Unglück mit mehreren Toten und vielen Verletzten soll das Leben von Dickens für immer verändern, denn während der Schriftsteller den Schwerverletzten und Eingeklemmten zu Hilfe eilt, macht er die Bekanntschaft eines abschreckend aussehenden, teilweise entstellten Mannes, der sich ebenfalls am Schauplatz der Katastrophe aufhält und zwischen den Toten und Sterbenden umherwandert.
Die Bekanntschaft mit Drood, wie sich der rätselhafte Mann nennt, beeindruckt Charles Dickens nachhaltig, wie er auch seinem engen Freund und Protegé Wilkie Collins, ebenfalls Schriftsteller, berichtet. Schon bald beginnt Dickens, sich merkwürdig zu verhalten. Er entwickelt ein sonderbares Interesse an Londons Unterwelt, an den gefährlichsten und abgelegendsten Orten unterhalb der Stadt, wo sich echte Gentlemen normalerweise niemals blicken lassen. Sein Ziel: Drood ausfindig machen, koste es was es wolle. Wilkie steht seinem Freund zunächst treu zur Seite, obwohl ihm die Sache nicht geheuer ist und er nicht begreift, warum Dickens diesen Drood finden muss. Die Suche entwickelt sich bald zur Obsession und es dauert nicht lange, da wird auch Wilkie Collins in Droods grauenhafte Machenschaften verwickelt …
Im Jahr 1865 ereignete sich tatsächlich ein katastrophales Zugunglück im englischen Staplehurst, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen und mindestens vierzig verletzt wurden. Einer der Überlebenden war Charles Dickens, Autor von so berühmten Werken wie „Great Expectations“, „A Christmas Carol“, „The Pickwickiers“ oder „Bleak House“. Das Unglück beeindruckte den Schriftsteller tief und hatte zahlreiche Auswirkungen auf sein Leben; unter anderem war es ihm kaum noch möglich, ohne Beschwerden und Angstanfälle mit dem Zug oder mit schnellen Kutschen zu reisen. Dan Simmons‘ neuester Roman „Drood“ beschreibt die letzten fünf Jahre in Charles Dickens’ Leben, also das, was sich zwischen dem Zugunglück und dem Tod des Autors im Jahr 1870 zutrug – oder vielmehr: was sich zugetragen haben könnte, denn der Roman trägt deutlich phantastische Züge. Simmons lässt diese Ereignisse aus der Sicht von Dickens‘ Freund und Schriftstellerkollegen Wilkie Collins berichten (auch Collins hat natürlich wirklich gelebt und zahlreiche Bücher veröffentlicht, mehrere auch zusammen mit Charles Dickens; zu seinen bekanntesten Werken dürften "The Woman in White" und "The Moonstone" zählen).
Als Einstieg in die Geschichte dient das genannte Zugunglück; Dreh- und Angelpunkt des Romans ist aber die Tatsache, dass Charles Dickens seinen letzten Roman mit dem Titel „The Mystery of Edwin Drood“ niemals beendete; vorher ereilte den gesundheitlich stark angeschlagenen Autor ein Schlaganfall, und niemand erfuhr jemals, wie die Romanfigur Edwin Drood ums Leben gekommen war. Simmons Roman umfasst knapp 1000 Seiten, und mancher Leser mag vielleicht denken, dass der Roman zu lang, zu ereignislos, zu wenig handlungs- und temporeich sei. Dem ist aber nicht so – von bewundernswert langer Hand erzählt Dan Simmons hier eine phantastische, sehr sorgfältig erdachte Geschichte, die vollkommen harmlos beginnt und die sich zunächst wie eine Biografie von Charles Dickens oder eine Hommage an den großen Autor liest. Der mysteriöse Titel gebende Drood ist zunächst nur eine unterschwellige Bedrohung, ein großes Mysterium.
Sehr geschickt hat Simmons es so eingerichtet, dass der Leser nie richtig weiß, was er von diesem Drood halten soll, denn alle, die ihn gesehen haben, sind recht merkwürdig und verfolgen undurchsichtige Ziele – etwa ein ehemaliger Polizeiinspektor, der das Phantom Drood seit etlichen Jahren durch die Londoner Unterwelt jagt und der überzeugt ist, dass Drood mehrere hundert Menschen grausam ermordet hat. Nicht einmal dem Erzähler dieser Buches, dem Autor Wilkie Collins, kann der Leser vollen Glauben schenken, denn Collins ist schwer opiumabhängig, auch wenn er anderer Meinung ist. Sind seine Begegnungen mit Drood die Wahrheit oder handelt sich lediglich um Halluzinationen, hervorgerufen durch übermäßigen Konsum von Laudanum? Ein faszinierendes, bedächtig entwickeltes Szenario, das sich immer mehr zuspitzt und den Leser, lässt er sich auf dieses Werk ein, am Ende fast sprachlos zurücklässt.
Würde der 1889 verstorbene Autor Wilkie Collins diesen Roman heute lesen, er wäre wahrscheinlich entsetzt. Dan Simmons zeichnet in seinem Buch zwischen den Zeilen ein grandios detailliertes Bild von Collins und von seiner Beziehung zu Dickens, der sein Mentor und Freund ist, gleichzeitig aber auch zeitlebens sein größter Rivale, Ziel von Liebe und Bewunderung, von Eifersucht und Neid, Mordlust und Hass. Auch Charles Dickens kommt hier nicht durchgängig gut weg: Gestützt auf zahlreiche Dickens-Biografien, hat Dan Simmons hier ein ausführliches Bild gezeichnet von einem Mann, der so gar nicht dem Bild des netten Familienvaters entsprach, den man gerne vor Augen hat, wenn man seine weltbekannten Werke liest.
Ausführlich beschreibt Wilkie Collins im Roman Dickens‘ unschöne Trennung von seiner Frau, die ihm geduldig viele Kinder geboren hatte, die Liebschaft zu der geradezu lächerlich jungen Schriftstellerin Ellen Ternan und seinen nicht gerade makellosen Charakter, der nach diesen Schilderungen von Eitelkeit, Ungeduld und Egoismus geprägt war. Man muss jedoch zu jeder Zeit bedenken, dass man das Buch durch die Augen des eifer- und drogensüchtigen Wilkie Collins liest – was also kann man glauben, und sind die Dinge wirklich so, wie sie scheinen? Neben diesen Charakterzeichnungen hat Simmons auch ein sehr stimmiges und atmosphärisches Bild des viktorianischen Londons gezeichnet, das man sich fast so lebhaft vorstellen kann wie das London in den Romanen von Charles Dickens.
Fazit: Ein faszinierendes, hintergründiges Mammutwerk, das seine Geheimnisse nur langsam preisgibt und eine unterhaltsame Mischung aus Historie, Biografie und Phantastik darstellt. Wer sich darauf einlässt und bis zum Ende durchhält, wird sich an der letztendlich genialen Konstruktion, die sich über fast 1000 Seiten erstreckt, wirklich erfreuen können. Düster und atmosphärisch dicht, rätselhaft und unterhaltsam, vor allem für Fans von Charles Dickens und Wilkie Collins, denn man erfährt vieles aus dem Leben dieser beiden Autoren. Wer schnelle Unterhaltung, pausenlose Hochspannung und Grusel erwartet, dürfte sich allerdings rasch langweilen.