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 Shadowrun 4.01D

Grundregelwerk

System: Shadowrun
Autoren: Rob Boyle
Verlag: Fantasy Productions

Cover
Gesamt +++--
Anspruch
Aufmachung
Leitbarkeit
Preis - Leistungs - Verhältnis


Die ersten Reaktionen auf die Ankündigung einer weiteren Auflage beinhalteten oft ein aufstöhnendes "Schon wieder?". Tatsächlich muss man sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass nun alle mühsam auswendig gelernten Regeln wieder über den Haufen geworfen werden müssen. Fakt ist aber, dass seit dem Erscheinen der vorherigen dritten Edition bereits sieben Jahre ins Land gezogen sind - im Grunde also Zeit für eine weitere Edition und somit für das 344 Seiten umfassende neue Hardcover-Regelwerk - oder?

Das Grundregelwerk der vierten Edition setzt an zwei Punkten zugleich ein. Auf der einen Seite wird ein Stück der Zeitleiste, nach der dritten Edition bis 2064 fortgesetzt, weitergeschrieben. Die vierte Edition spielt nun im Jahr 2070. Die zwischen diesen Eckdaten liegenden Ereignisse, von denen vor allem der zweite Matrixcrash und die sich daraus entwickelnde neue und drahtlose Vernetzung der Menschheit zu nennen sind, werden in dem geschichtlichen Abriss zum Shadowrun-Universum kurz skizziert. Diese Informationen sind leider die einzigen zur Verfügung stehenden, so dass die Geschichte eines Shadowrun-Charakters der dritten Edition hin zur vierten rasch eine Lücke bekommt. Sechs Jahre Winter- oder Kälteschlaf, vielleicht Amnesie? Nun, hier ist vor allem die Phantasie der Spieler gefragt, doch Konvertierung eines Charakters ist ohnehin ein Aspekt, der sich nicht so einfach gestaltet. Dazu später noch mehr.

Die andere Seite, an der Veränderungen eingesetzt wurden, ist das Regelsystem. Diese Veränderungen sind grundlegend, praktisch kein Stein ist auf dem anderen geblieben.
Grundsätzlich sind die Attribute erweitert worden, was sehr positiv zu bewerten ist. Durch die Splittung von Intelligenz in Intuition und Logik und die Aufteilung von Schnelligkeit in Geschicklichkeit und Reaktion werden einige Mängel behoben, die sich in der dritten Edition immer wieder mal bemerkbar machten. Beispielsweise ist es nun möglich, einen furchtbar dummen Troll zu spielen, dessen Gehirn- und Merkfähigkeit weit unter dem Durchschnitt liegt, der aber trotzdem über eine recht gute praktische Intelligenz verfügt, etwa rasch auf bestimmte Situationen zu reagieren vermag.
Neben der Splittung der Attribute, aus denen sich auch ergibt, dass Reaktion nun kein abgeleitetes - also sich aus der Addition und Division verschiedener anderer Attribute ergebendes - Attribut mehr ist, wurden auch zwei neue Attribute aufgenommen: Edge und für Technomancer Resonanz.
Edge steht für das Glück eines Shadowrunners, das nicht mit dem Karma zu verwechseln ist und erlaubt es, entsprechende Boni bei Würfen in Anspruch zu nehmen. Im Prinzip eine gute Sache, bei der am meisten stört, dass dieses Wort nicht wie alles andere auch ins Deutsche übersetzt wurde.

Doch auch abgesehen von Veränderungen im Attributsbereich wurde das Regelsystem stark auf den Kopf gestellt.
Die üblichen Würfelpools bei Shadowrun gehören der Vergangenheit an. Nach der vierten Edition setzen sich Pools aus dem Attributswert in Kombination mit dem Fertigkeitswert zusammen. Eine Veränderung, die Spielern der Systeme aus der World of Darkness/Welt der Dunkelheit schon lang bekannt sein dürfte und für die Shadowrun-Spieler durchaus auch als intelligente Entwicklung des Systems angesehen werden kann.
Statt nur einzelne Fertigkeiten zu erwerben, kann man nun - ebenfalls durch diverse andere Rollenspiele bewährt - auch Fertigkeitsgruppen kaufen, Zustandsmonitore (der Gesundheitszustand des Charakters) werden individuell berechnet, die Regeln zur Eins und Sechs wurden ebenso geändert wie die Aufteilung von Handlungen und auch sonst sind die meisten Regeln einem deutlich vereinfachten System gewichen, das langjährigen Shadowrun-Spielern zwar zumutet, sich komplett neu in das System einzuarbeiten, für neue Spieler allerdings sicherlich eine deutliche Vereinfachung darstellt.

Ebenfalls ziemlich offensichtlich ist die Entwicklung von Shadowrun in eine Richtung, die sehr viel stärker als zuvor Wert auf den Aspekt des Cyberpunk legt. War in der dritten Edition ein vielfach geäußerter Kritikpunkt, dass Shadowrun immer mehr in eine Fantasy-Richtung geht, sich immer stärker dem verbundenen System Earthdawn annähert, und standen durch SURGE mutierte Charaktere ebenso wie ein hohes Magieaufkommen oftmals unter Beschuss, ist dem Grundregelwerk der vierten Edition nun eine ganz andere Richtung anzumerken.
Durch die tiefgreifenden Veränderungen in der Matrix wird genau dieser Aspekt stark gefördert und steht zu großen Teilen im Zentrum des Geschehens. Die Aufwertung von Charakteren durch Cyber- und Bioware wurde ebenfalls vereinfacht. So wird das Maximum an Aufwertungen nun anders berechnet, ein Austausch ist teilweise vereinfacht und die Preise sind sehr stark gefallen - allerdings wiederum auch das Kapital der Charaktere.
Magie hingegen erfuhr ebenso wie alle anderen Aspekte zwar Veränderungen und auch Verbesserungen, allerdings ist gerade für neue Magier der Start ein wenig schwieriger. Magie gehört jetzt etwa wie alle anderen zu den Attributen, die zu kaufen sind, so dass ein Beginn mit dem vorherigen Standardwert Sechs nun eher eine Ausnahme bildet und zu Lasten von Fertigkeiten oder Zaubern geht.

Bei den ganzen hier angesprochenen Systemänderungen, die natürlich nur einen kleinen Einblick in das neue System bieten können, drängt sich jetzt gerade für alteingesessene Spieler die Frage auf: Wie kann ich meinen Charakter aus 3.01D konvertieren? Nie war eine Antwort leichter zu geben: Gar nicht.
Das System aus 4.01D arbeitet ausschließlich mit Generierungspunkten, ein Prioritätensystem gibt es nicht mehr. Zum Aufbau eines Charakters stehen nun vierhundert Punkte zur Verfügung, doch ist dies im Vergleich zu den 123 Punkten nach 3.01D keinen Luftsprung wert, sondern zeigt nur einen weiteren Punkt auf, an dem tiefgreifende Veränderungen vorgenommen wurden - denn die Kosten sind grundsätzlich höher und setzen sich ganz anders zusammen als bislang.
Auch durch die neuen Attribute ist eine Konvertierung nicht möglich, und zu guter letzt stellen die neuen Regeln Charaktere jedes Archetypus vor grundlegende Schwierigkeiten: Die Cyberwareoptionen eines Straßensamurais stimmen nicht oder hätten anders genutzt werden können, ein Decker (jetzt: Hacker) hat noch Extrakosten für Speicherplatz berechnet, während 2070 Speicherplatz unendlich zur Verfügung steht, ein Magier wurde unter Beachtung der Magiestufen erstellt und so weiter.
Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten, mit diesen Veränderungen umzugehen: Entweder startet man komplett neu, was wohl am ehesten zu empfehlen ist, oder aber man baut einen bestehenden Charakter von Grund auf neu auf und verteilt das bisher erlangte Karma ebenfalls entsprechend neu.

Auch zur Aufmachung des neuen Grundregelwerkes lässt sich einiges sagen. Zunächst einmal fällt auf, dass das Inhaltsverzeichnis ein wenig übersichtlicher und umfassender geworden ist. Im Gegensatz dazu fehlt ein Index am Ende des Buches - was einen wirklich beinahe unverzeihlichen Fehler darstellt.
Die Seiten sind allesamt im Kopf- und Fußbereich in gleichem dunklen Grün gestaltet, was sehr atmosphärisch wirkt und auch gut zum System passt.
Die Illustrationen hingegen sind praktisch durch die Bank weg schlecht. Dies liegt nicht unbedingt an der Qualität der Zeichnungen, sondern vielmehr daran, dass sämtliche Illustrationen derart dunkel gedruckt wurden, dass das Bild kaum noch erkennbar ist. Ebenso sind die dargestellten Charaktere oft skizzenhaft oder stark überspitzt dargestellt, was ebenso wenig gut ankommt.
Nach etwa einem Drittel des Buches werden wie üblich verschiedene Archetypen vorgestellt, wozu Farbabbildungen auf Hochglanzpapier verwendet wurden - und zwar ganze sechzehn Seiten. Auch hier ist der Druck zu dunkel, die Zeichnungen hingegen fallen an dieser Stelle sehr positiv auf, auch wenn man beispielsweise den Kampfmagier schon in anderen Publikationen gesehen hat.

Grundsätzlich erfordert Shadowrun 4.01D die Bereitschaft alteingesessener Spieler, sich von Grund auf in ein neues System einzuarbeiten und am besten auch neue Charaktere zu erstellen. Belohnt wird diese Mühe dann durch ein an vielen Stellen deutlich verbessertes und oft auch vereinfachtes System, bei dem der Cyberpunk-Aspekt sehr stark angestiegen ist.
Neue Spieler erhalten von Grund auf ein System, das sich vermutlich etwas leichter nachvollziehen lässt als das der dritten Edition. Nachteil hier ist vor allem, dass die umfangreichen Informationen zum Hintergrund aus der zweiten und dritten Edition bislang fehlen und entweder außen vor gelassen werden müssen, bis weitere Bände erschienen sind, oder unter Nichtbeachtung der regeltechnischen Informationen in den alten Hintergrundbänden genutzt werden. Weiterer Vorteil neben dem leichteren Verständnis ist, dass auch deutlich mehr Informationen im Grundregelwerk zu finden sind als bisher, so dass die Abhängigkeit von weiteren Büchern nicht ganz so ins Gewicht fällt.

Das System muss sich wie jedes andere natürlich auch bewähren, hat aber sehr gute Chancen, wenn die Mauern der Skepsis erst einmal überwunden wurden, da wirklich in erster Linie Vorteile aus dem neuen System zu ziehen sind, was ein atmosphärisches, realitätsnahes und doch einfaches Cyberpunk-Spiel betrifft.
Das Fehlen eines Index und die schlechte Qualität der Illustrationen beziehungsweise deren Druck hinterlassen jedoch leider einen schalen Nachgeschmack, der sich wohl erst mit späteren Auflagen geben wird.


Mit freundlicher Unterstützung von Fantasy Productions GmbH,
www.fanpro.com und www.f-shop.de

Tanja Elskamp



Hardcover | Erschienen: 01. Oktober 2005 | ISBN: 3890647731 | Preis: 35 Euro | 344 Seiten | Sprache: deutsch

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