Micah ist siebzehn Jahre alt und eine notorische Lügnerin, seit sie denken kann. Mal hat sie ihren Klassenkameraden erzählt, dass sie ein Junge ist – ein Schwindel, der erstaunlicherweise erst nach Tagen aufflog -, mal, dass sie als Hermaphrodit zur Welt kam, wieder ein anderes Mal, dass ihr Vater ein einflussreicher Waffenhändler ist. Lügen findet Micah leicht, weil die meisten Leute bereit sind, alles zu glauben, was man ihnen erzählt, egal wie abgedreht oder unwahrscheinlich es ist. Als ihr bester Freund Zachary dann auf einmal tot im New Yorker Central Park aufgefunden wird, beschließt Micah, dass sie nun nur noch die Wahrheit sagen wird – nichts als die ganze Wahrheit.

"Lügnerin!" von Justine Larbalestier beginnt als Jugendthriller und macht nach etwa einem Drittel einen Genrewandel durch, der das Buch ins Übersinnliche abdriften lässt – ein etwas gewöhnungsbedürftiger Mix. Im Mittelpunkt steht Micah, eine nicht unbedingt sympathische Protagonistin, die durchgehend in Ich-Form erzählt und sich immer wieder direkt an den Leser wendet mit dem Versprechen, uneingeschränkt die Wahrheit zu erzählen. Doch was ist die Wahrheit über Micah, über ihre Familie, über Zachs Tod?

Je weiter der Roman voranschreitet, desto mehr Lügen gesteht Micah dann doch ein, kleine und große, nicht so wichtige und erschütternde, die alles bisher Gelesene in Frage stellen. Als Leser merkt man rasch, dass man dieser Erzählerin, die stets schwört, dass sie nur die reine Wahrheit sagt, eigentlich kein Wort glauben kann. Das macht das Buch spannend und unvorhersehbar, weil man plötzlich der gesamten Geschichte misstraut. Was ist wirklich geschehen, was hat Micah erfunden, wo hat sie den Leser ihres Berichts bewusst hinters Licht geführt? Den übersinnlichen Teil des Romans und das Ende kann man daher auf zwei Arten auffassen – als komplette Lüge, als durchgedrehte Phantasie einer pathologischen Lügnerin – oder aber als Tatsachenbericht, der die höchst bizarre Wahrheit ans Licht bringt. Justine Larbalestier löst die Geschichte auch am Ende nicht wirklich auf und überlässt es dem Leser, sich alles zusammenzureimen und selbst zu entscheiden, welchen Teil er nun glauben möchte und welchen nicht.

Es macht Spaß, Micahs teils sehr phantastische Geschichte zu lesen und sich dabei beständig zu fragen, was denn nun den Tatsachen entspricht und wo man gerade eiskalt belogen wird. "Lügnerin!" hätte eigentlich schon supergut als reiner Jugendthriller funktioniert, in dem es nur um den rätselhaften Tod von Micahs Tod Freund Zach geht. Der phantastische, übersinnliche Teil ist Geschmackssache – er passt nicht so recht in das ansonsten sehr hart-realistische Buch hinein, liest sich aber auf jeden Fall gut. Hin und wieder hat "Lügnerin!" ein paar kleine Längen, insgesamt ist es aber ein originelles, teils verstörendes und verwirrendes Buch für Fans von ungewöhnlichen Geschichten, die am Ende keine Auflösung auf einem Silbertablett erwarten.