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Während das Interesse an und die Erforschung des richtigen Umgangs mit hochbegabten Kindern inzwischen starken Zuwachs zu verzeichnen hat, gibt es noch immer vergleichsweise wenig Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Hochbegabung bei Erwachsenen. Die Diplompsychologin Andrea Brackmann nimmt sich diesem seit einigen Jahren in ihrer verhaltenstherapeutischen Praxis an und hat ihre Erfahrungen bereits in mehreren Büchern zum Thema öffentlich gemacht.
"Ganz normal hochbegabt – Leben als hochbegabter Erwachsener", das 2010 in der vierten Auflage erscheint, ist als Ergänzung zu Brackmanns ebenfalls vielverkauften Buch "Jenseits der Norm - hochbegabt und hoch sensibel?" zu sehen. Während der Schwerpunkt in letzterem in einer theoretischen Annäherung an diese besondere Disposition liegt, enthält das hier zu besprechende Buch die individuellen Lebensgeschichten einer Reihe von hochbegabten Erwachsenen.
Eine kurze Einleitung gibt einen allgemeinen Einblick in das Thema, informiert über den Forschungsstand und Brackmanns ganzheitliches Verständnis von 'Hochbegabung'. Auf gut einhundert Seiten präsentiert der Hauptteil dreizehn Fallbeispiele, die in grobe Kategorien wie "Hochbegabte Kinder wecken ihre Eltern" oder "Hochbegabung ohne Bildung?" gegliedert sind. Die einzelnen Unterkapitel bestehen hauptsächlich aus dem persönlichen Erfahrungsbericht eines Hochbegabten, der in der Ich-Form etwas über sein Leben, seine Eigenheiten und Probleme schreibt. Andrea Brackmann leitet diese autobiografischen Texte mit einigen Worten dazu, inwiefern die Geschichte als 'typisch' erachtet werden kann, und sie beschließt das Unterkapitel auch noch mit einigen dahingehenden Kommentaren, die meist zum nächsten Beispiel überleiten. Im Schlussteil erläutert die Autorin den Begriff der Intelligenz und legt Gründe für eine berechtigte Skepsis gegenüber ihrer Messbarkeit mit Hilfe standardisierter Tests dar. Außerdem geht sie den Fragen nach, warum sich so viele Hochbegabte vor diesen Anlagen geradezu fürchten und mit welchen Ratschlägen diesen Menschen über ihre Unsicherheiten hinweggeholfen werden kann. Abschließend finden sich noch einige Literaturempfehlungen und Kontaktadressen im Internet.
"Ganz normal hochbegabt" – bereits der Titel macht Andrea Brackmanns Ziel deutlich, mit einigen Klischees aufzuräumen: Dazu gehören die Vorstellungen vom 'Wunderkind', das zwangsläufig zum erwachsenen 'Überflieger' in allen Bereichen wird, ebenso wie die von genialen, aber sozial inkompetenten Brillen-Nerds. Die versammelten Texte zeichnen ein anderes Bild, nämlich eines, das Hochbegabung nur als eine der vielen Komponenten darstellt, die die individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften eines Menschen ausmachen. Deswegen lesen sich die gesammelten Lebensgeschichten so unterschiedlich wie die von Menschen mit durchschnittlichem IQ. Nicht nur variieren die Begabungsschwerpunkte und die Lebensumstände, in denen diese mehr oder weniger zum Tragen kommen, auch der Umgang mit den persönlichen Stärken und Schwächen, die zum Teil als Folge der Hochbegabung gesehen werden können, ist bei jedem anders.
Bei der Auswahl der Geschichten wird Brackmanns Ansatz deutlich, bewusst die jener zu favorisieren, deren Leben sich nicht so ohne Ecken und Kanten präsentiert, wie man das bei vermeintlich stets auf Erfolg gebuchten Genies vermuten könnte. Stattdessen geht es zum einen darum, die der breiten Öffentlichkeit meist nicht bewusste Vielschichtigkeit des Phänomens aufzuzeigen und damit z.B. Leser anzusprechen, die den Verdacht haben hochbegabt zu sein, diese Idee aber zum Beispiel aufgrund ihrer Kopfrechenschwäche doch immer wieder beiseite schieben. Zum anderen möchte Brackmann durch das Aufzeigen von möglichen Parallelen zu ihren eigenen Nöten jenen hochbegabten Erwachsenen Mut zu machen, denen ihre Andersartigkeit mehr als Fluch denn als Segen erscheint. Wer also Beispiele für besonders gelungene und problemfreie Hochbegabten-Biografien sucht, deren Existenz selbstverständlich auch Andrea Brackmann nicht in Frage stellt, wird in den Fallbeispielen nicht fündig werden.
Andrea Brackmanns Ansatz zum Umgang mit Hochbegabung ist grundsätzlich überzeugend. Und ihr Buch "Ganz normal hochbegabt" ist wohl vor allem für diejenigen interessant, die Züge ihres eigenen Wesens oder Lebens in einer oder mehreren der Geschichten wiedererkennen können, lesenswert. Die meisten Leserinnen und Leser werden diese Berichte allerdings wohl auch nur auf der Suche nach solchen Anknüpfungspunkten überfliegen; als davon unabhängige Erzählungen mangelt es den Texten dann doch an dokumentarischem, essayistischem oder literarischem Eigenwert. Jenseits dieses Anspruchs kann die Zusammenstellung jedoch bestimmt für viele als nettes Lesebuch in Ergänzung zu allgemeinerer Ratgeberliteratur zum Thema dienen.
Eine Leseprobe gibt es hier auf der Verlagsseite.