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 Chronic City


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Brutalität
Gefühl
Spannung
Jason Insteadman ist ehemaliger Schauspieler. In jungen Jahren spielte er die Hauptrolle in einer Anwalts-Soap, und seitdem lebt er so gut von den Tantiemen, dass er eigentlich nicht mehr arbeiten muss. Stattdessen lässt er sich durch das New Yorker Stadtleben treiben, tändelt von einer Party zur nächsten und langweilt sich dabei entsetzlich, zumal er auf die gesellschaftlichen Abende längst nicht mehr wegen seiner Schauspielkunst, sondern wegen seiner Frau, der im All festsitzenden Astronautin Janice Trumbull, eingeladen wird. Janice schreibt ihm aus der von jeder Versorgung abgeschnitteten Raumstation herzergreifende Liebesbotschaften, die in der Boulevardpresse abgedruckt werden, während Jason sich schon gar nicht mehr an ihr Gesicht erinnert. Vielmehr erliegt er dem Charme des eigenwilligen Rockmusikkritikers Perkus Tooth, der den lieben langen Tag in seiner Hochhauswohnung im Internet surft, sich alte Filme ansieht (bevorzugt mit dem mythisch verklärten Marlon Brando) und einen Joint nach dem anderen raucht. Über Perkus Tooth lernt Jason schließlich auch die spröde Schriftstellerin Oona kennen, die zu seiner Geliebten wird. Derweil streift in den Straßenschluchten Manhattans ein riesiger Tiger umher, ein Adler nistet an der Außenfassade eines Skyscrapers, eine Stadtvilla wird zum edlen Domizil herrenloser Hunde, und wechselweise wabern ein rätselhafter Schokoladengeruch und ein undurchdringlicher Nebel in den Straßen umher.

Dies ist die eigenwillige, versponnene Kulisse von Jonatham Lethems neustem Roman "Chronic City", eine Geschichte über Freundschaft und Liebe, Gegenwartskunst und Drogenkonsum, Lokalpolitik und große Gefühle - und vor allem: über New York. "Chronic City" ist eine einzige Liebeserklärung an die Stadt am Hudson River, die nur langsam den Schock des 11. Septembers überwunden hat. Der Schreck sitzt den New Yorkern noch immer in den Knochen, das ist zwischen den Zeilen spürbar; gelegentlich stürzen Hochhäuser ein, da angeblich der Tiger (oder ist es eine führerlose Tunnelbohrmaschine?) den Untergrund unterhöhlt hat, und der jäh auftretende Nebel raubt den Protagonisten (und dem Leser) die Sicht. Dazwischen: herrliche Dialoge, wenn die versierten Kiffer Perkus und Jason (mit wechselnden Randfiguren) über Kunst und Vergänglichkeit debattieren; eigenwillige Ausflüge von Oona und Jason zu den Installationen eines postmodernen Künstlers und hölzerne Parties der High Society, auf denen über einen "Second Life"-Ableger parliert wird.
Jonatham Lethem hat mit diesem Roman einen äußerst unterhaltsames, in Teilen aber auch sehr melancholisches Werk vorgelegt, das das Lebensgefühl im heutigen New York genau einfängt. Sein Personal ist originell, die ausgeführten Gedankenspiele faszinierend (mit Ausnahme vielleicht der etwas aufgepropften Baudrillard-Hommage), und das Ende schmerzlich schön. Der wohl beste New-York-Roman seit langem, unbedingt lesenswert und sprachlich ein Hochgenuß.

Hagen Hoffmann



Hardcover | Erschienen: 21. Februar 2011 | ISBN: 978-3608501070 | Originaltitel: Chronic City | Preis: 24,95 Euro | 490 Seiten | Sprache: Deutsch

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