Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Brutalität | |
Gefühl | |
Humor | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
In der Stadt Aramanth zählt nur eines: Leistung! Wer in den alljährlichen Prüfungen schlecht abschneidet, dessen Familie sinkt in der allgemeinen sozialen Ordnung, wer gut ist, steigt auf.
Als das ungestüme Mädchen Kestrel eines Tages ihren Zorn über das System in einer öffentlichen Tirade lautstark kundmacht, muss ihre Familie dafür büßen. Beinahe gar wird Kestrel grausamen Züchtigungsmaßnahmen ausgesetzt, kann aber noch rechtzeitig fliehen. Dabei gerät sie zufällig an den Herrscher Aramanths, der ebenfalls ein Gefangener in seinem Turm zu sein scheint. Er schickt das Mädchen auf die Mission, die Stimme des Windsängers, einer mysteriösen Konstruktion im Inneren der Stadt, zu holen, die das Leben in Aramanth wieder lebenswert machen könnte. Zusammen mit ihrem Bruder Bowman und dem Idioten Mumpeo flieht Kestrel aus der Stadt - und prompt geraten die drei von einem Abenteuer ins nächste.
Sollte man den Roman
The Wind Singer von William Nicholson mit anderen Werken der Literatur vergleichen, man müsste ihn als einen Mix aus Tolkiens
Der Herr der Ringe, Saint-Exupérys
Der Kleine Prinz und Orwells
1984 beschreiben. Klingt unmöglich, beschreibt die Vielseitigkeit des Romans allerdings sehr gut - das oder die schlechte Vergleichbarkeit mit anderen Büchern.
The Wind Singer ist in seiner Geschichte und in seinem Schreibstil gleichzeitig so frisch und so schön altmodisch, wie es mir bisher nur selten vorgekommen ist.
Die Story beginnt mit einer Einführung in das faschistische System der Stadt Aramanth, einer brutalen Leistungsgesellschaft. Mit ihrem angeblich gerechten System, in dem sich der Stand eines Bürgers in der Gesellschaft aus seiner Leistung und Leistungsbereitschaft für selbige ableitet, unterdrückt sie jede Form von Individualismus und Freidenkertum - schließlich sollen ja alle die gleichen Chancen haben.
Damit legt
The Wind Singer einen tollen Einstieg hin, schließlich sind komplexe Allegorien und hintergründige Bezüge zur Realität in Fantasyromanen viel zu selten. Nur stellt sich die Frage: Was will Nicholson mit seiner fiktiven Welt kritisieren? Das Buch ist aus dem Jahr 2000, auf die Bush-Administration lässt sich der Inhalt schwer beziehen. Der Sozialismus, an den mich das im Roman dargestellte System am ehesten erinnerte, existiert ebenfalls schon lange nicht mehr in westlichen Gefilden, und mit unserer heutigen Demokratie ginge das Buch zu harsch um, sollte es diese anprangern wollen. Vielleicht wollte Nicholson spezifische Defizite im damaligen britischen Bildungssystem kritisieren, aber dadurch verliert der Roman die Gültigkeit seiner Botschaft bereits nach kurzer zeitlicher und räumlicher Distanz - hier in Deutschland wird sich kaum einer von der im Roman dargestellten Gesellschaft angesprochen fühlen, schließlich beschreibt die von Nicholson erdachte Welt keine Zukunftsvision wie eben Orwells 1984, sondern eine beliebige Parallelwelt, die mit der unseren nur wenig gemeinsam hat.
Die eigentliche Geschichte von
The Wind Singer bewegt sich stets zügig und spannend vorwärts. Dabei geht der Roman sehr episodenhaft vor. So bilden immer mehrere Kapitel zusammen in sich geschlossene Bögen, die einerseits kleinere Nebenhandlungen erzählen und andererseits die Odyssee auf der Suche nach der Stimme des Windsängers immer weiter voran treiben, wobei Nicholson einen guten Mix aus beidem findet. Gegen Ende werden diese Nebenhandlungen aber immer kürzer und abgehackter, häufig nehmen sie nur noch eins der kurzen Kapitel in Anspruch, bevor die Kinder es im nächsten mit einer völlig anderen Problemstellung zu tun bekommen. So versäumt es der Roman, auf einen Höhepunkt hin zu arbeiten, der die Geschichte würdig abschließt. Stattdessen müssen die Protagonisten nur noch neue Hindernisse überwinden, für die sich meistens zu schnelle Problemlösungen finden.
Dabei hat Nicholson erfreulicherweise über die gesamte Länge des Romans hinweg immer wieder neue Einfälle, die von enormer Kreativität und Phantasie zeugen - und was kann es bessere Eigenschaften für einen Fantasyroman geben? Gealterte Kinder, die andere durch ihre Berührung ebenfalls altern lassen, zwei gigantische Wüstenstädte auf Rädern, die sich durch Wind fortbewegen und gegenseitig grundlos bekriegen, eine nicht enden wollende Armee junger Menschen, die mit einem Lächeln auf den Lippen vom Töten singen - die Liste der starken Bilder in
The Wind Singer kennt kein Ende und ist so reich an Phantasie, dass es aktuell einer Joanne K. Rowling Konkurrenz macht. Doch stehen auch diese Bilder im Roman nur für sich, kann sich keine relevante oder eindeutige Interpretation erschließen. Angesichts der für sich wundervollen Einfälle des Romans ist das nicht unbedingt nötig, hätte dem Roman aber zu wahrer Größe verholfen.
Doch auch so ist
The Wind Singer eine phantastische, gut zu lesende Geschichte für Leser allen Alters, die fast alles richtig macht. Wohlgemerkt: fast alles! Leider sind die Hauptfiguren nur halb überzeugend. Vor allem der zurückgebliebene Mumpo ist mit seinem einfältigen Verhalten nicht bemitleidenswert, sondern einfach nur anstrengend und unsympathisch in seiner Art, den Geschwistern Kestrel und Bowman zu schaden. Die beiden ihrerseits sind zwar nicht schlecht charakterisiert, aber nur Bowman macht von den beiden eine wirkliche Entwicklung durch, während Kestrel auf einem Niveau stagniert.
Aber all das ist relativ egal in einer Geschichte, die mit ihrem Ideenreichtum und ihrem ordentlichen Spannungsniveau durchgehend zu fesseln weiß.
Fazit:
Empfehlenswertes, niveauvolles Fantasy-Märchen voll sprühender Phantasie.