Das Adventure-Jahr 2011 neigt sich bald dem Ende zu, die ganz großen Kracher sind trotz einiger sehr guter Veröffentlichungen aber bisher noch ausgeblieben. Mit "Harveys neue Augen" schickt rondomedia einen Titel von Daedalic Entertainment ins Rennen, der das Zeug hat, beim Kampf um das beste Point-and-Click-Adventure 2011 auf den allerersten Plätzen dabei zu sein. "Harveys neue Augen" ist im Prinzip ein Sequel zu dem herrlich abgedrehten "Edna bricht aus".
Es gibt sowohl ein Wiedersehen mit Edna als auch mit Doktor Marcel und vielen anderen bereits wohlbekannten Charakteren. Diesmal schlüpft man als Spieler aber nicht in die Rolle von Edna, sondern von Lilli, einem kleinen, ganz und gar harmlos wirkenden Mädchen mit Zöpfen und einer niedlichen Schleife im Haar.

Mysteriöse Todesfälle? Kein Problem mit den Zensurgnomen!

Lilli lebt in einem Kloster und leidet unter den Anfeindungen der anderen Kinder und der strengen Oberin Ignatz, die ihr haufenweise lästige Aufgaben und Pflichten aufs Auge drückt. Lilli hält sich aber stets zurück, unterdrückt all ihren Frust und verhält sich still und freundlich – könnte man jedenfalls denken.
Tatsächlich aber passieren in Lillis Umgebung des Öfteren äußerst mysteriöse Todesfälle. Da kann es schon mal passieren, dass ein Junge von Termiten gefressen wird, ein anderer Junge durch eine explodierende Fliegerbombe in Stücke gerissen oder ein Clown unter einem Kronleuchter zerquetscht wird. Zum Glück gibt es im Spiel die allgegenwärtigen Zensurgnome, die alle blutigen Spuren von solchen kleinen Unfällen mit rosa Farbe überpinseln – kein Grund zur Beunruhigung also, weder für Lilli noch für den Spieler!

Messer, Gabel, Schere, Licht …

Zurück zur Handlung: Lillis einzige und beste Freundin in der freudlosen Klosterschule ist Edna. Als die Oberin eines Tages ankündigt, dass ein Psychiater namens Doktor Marcel dem Kloster einen Besuch abstatten und alle Kinder therapieren will, macht Edna sich schleunigst aus dem Staub – schließlich kennt sie die Methoden des Doktors, der seit ihrem letzten Zusammentreffen im Rollstuhl sitzt, aus eigener Erfahrung. Lilli steht nun vor der Aufgabe, ihre geflohene Freundin Edna zu finden und zu retten.

Dabei gibt es aber ein kleines Problem: Doktor Marcel hat Lilli durch Hypnose eine Reihe von typischen Erwachsenen-Verboten eingetrichtert. Doch wie soll sie Edna retten, wenn sie nicht mit spitzen Dingen spielen, kein Feuer machen und nicht lügen darf? Wie soll sie in der Welt draußen vor den Klostermauern zurechtkommen, wenn es verboten ist Alkohol zu trinken, Erwachsenen zu widersprechen oder sich an gefährliche Orte zu begeben? Die Lösung liegt ausgerechnet in dem blauen Stoffhasen Harvey (dem Spieler noch wohlbekannt aus "Edna bricht aus"), durch den Lilli hypnotisiert wurde. Mit seiner Hilfe kann sie sich selbst hypnotisieren und in eine skurrile Gedankenwelt abtauchen, um die blödsinnigen Verbote zu umgehen und zu brechen – und endlich zu Ednas Rettung zu eilen!

Tun und lassen, was man will – ganz einfach, oder doch nicht?

"Harveys neue Augen" spielt sich wie ein ganz klassisches Point-and-Click-Adventure und wird ausschließlich mit der Maus gesteuert. Neben einem Inventar wird am unteren Bildschirmrand eine Auswahl an Verboten eingeblendet, die all das symbolisieren, was Lilli nicht tun darf und kann. Je weiter das Spiel voranschreitet und je mehr Aufgaben man bewältigt hat, umso mehr Verbote können gebrochen werden, jedoch immer nur eines zur gleichen Zeit. Das große Ziel für das spektakuläre Finale ist schließlich "tun und lassen, was man will" – doch bis dahin ist es ein weiter Weg! Lilli begegnet auf ihrer gefährlichen und seltsamen Reise den skurrilsten Gestalten und muss haufenweise verzwickte Rätsel lösen, wobei ordentlich um die Ecke gedacht werden darf. Vor allem, wenn das Mädchen in seine irrwitzige Gedankenwelt abtaucht, um die ihr auferlegten Verbote zu umgehen, wird es vollends surreal.

Das Spiel macht von Anfang bis Ende einfach irren Spaß und lebt von dem schrägen Kontrast zwischen liebevoll handgezeichneten Comic-Umgebungen (inklusive der Zensurgnome mit ihrer rosa Farbe) auf der einen Seite – und fiesen, schrägen und bitterbösen Ereignissen auf der anderen. Vor allem der blaue Stoffhase Harvey ist in diesem Teil mehr als gruselig geraten, wie der Spieler bald am eigenen Leib erfährt. Sobald man versucht, ein Verbot zu brechen, etwa mit einem spitzen Gegenstand hantieren oder einen Erwachsenen anlügen, taucht Harvey auf und ruft Lilli mit roboterhafter Stimme zur Ordnung.

Täuschend harmlose Grafik, großartige Sprachausgabe

Die Grafik besitzt immer noch den skurrilen Charme von "Edna bricht aus", liegt hier aber in High Definition vor, was für zusätzlichen Spielspaß sorgt. Alle Szenen sind mit massenhaft Details und humorvollen Anspielungen vollgestopft und es macht mehr als nur Spaß, sich als Lilli durch diese surrealistische Welt zu bewegen. Auch die Sprachausgabe (komplett auf Deutsch) ist makellos und sehr hochkarätig besetzt. Grandios ist, dass Lilli während des kompletten Spiels nicht spricht, sondern sich nur durch Laute verständigt, die von "Huh" über "Hm" bis "Äh?" reichen und die von ihren Gesprächspartner immer dankbar und meist äußerst redselig aufgenommen werden.

Fazit: "Harveys neue Augen" ist einfach ein perfektes Game für Point-and-Click-Fans – herrlich phantasievoll, komisch, bitterböse und schräg. Ein würdiger Nachfolger von "Edna bricht aus", den man auf jeden Fall gespielt haben sollte! Beste Unterhaltung ist hier garantiert. Das Spiel hält zum Schluss übrigens drei alternative Enden bereit, hin und wieder Abspeichern also nicht vergessen!