Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Bildqualität | |
Brutalität | |
Gefühl | |
Humor | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
Nicht oft passiert es, dass ein Roman, sechs Jahrzehnte nach seinem erstmaligen Erscheinen, fast vergessen und unbeachtet in seinem Ursprungsland, plötzlich internationalen Erfolg feiert. Hans Fallada hat es über ein halbes Jahrhundert nach seinem Ableben auf die internationalen Bestsellerlisten geschafft. "Jeder stirbt für sich allein" war Falladas letzter Roman, 1946 geschrieben in nur wenigen Wochen, kurz vor seinem Tod. Im inneren Exil hatte er das Dritte Reich überlebt und schrieb zunächst widerwillig, von Johannes R. Becher überredet, einen Roman über den Alltag und den Widerstand aus der Berliner Bevölkerung Anfang der 40er Jahre. Im Aufbau-Verlag erschien nun erstmals, vom internationalen Erfolg angetrieben, der Roman in ungekürzter Fassung und mit einem zeithistorischen Anhang.
Dem Roman liegt eine wahre Geschichte zugrunde. Bereits früh im Krieg musste ein bejahrtes Ehepaar aus Berlin Wedding den Verlust eines Familienmitgliedes betrauern. Bisher recht unpolitisch und eher stille Mitläufer, wandelten die Hempels durch dieses Erlebnis ihre Einstellung zum Dritten Reich. Allein, ohne jeglichen Kontakt zu anderen, fingen sie an Postkarten zu schreiben, auf denen sie zum Widerstand aufriefen. Sie legten die Karten in Berliner Häusern ab in der Hoffnung, dass sie eine aufrührerische Wirkung erzielen würden. Nach wenigen Jahren wurden sie von der Gestapo festgenommen und schließlich zum Tode verurteilt.
Fallada hat die Akten dieses Falles gelesen, die Geschichte des Ehepaars mit vielen Änderungen ins Zentrum seines Romans gesetzt und sie mit den Geschichten vieler erfundener Personen verwoben. Das Ergebnis ist ein häufig ins episodenhafte abgleitendes Mosaik des Berliner Alltagsleben während des Zweiten Weltkrieges: Arbeiter, Angestellte und Kommissare begegnen sich kurz, oft ohne zu wissen, wie sie einander ihr Schicksal beeinflussen. Überzeugte Nazis, Denunzianten und verschiedene Widerstandskämpfer ringen miteinander, mal nur um persönliche Vorteile, mal um das Leben ihrer Mitmenschen. Auf diese Weise werden die Schicksale von Dutzenden Personen geschildert, die alle auf irgendeine Art in ihrem Handeln vom nationalsozialistischen Überwachungsstaat getrieben werden.
Das gut 670-seitige Buch schließt mit einem Anhang mit Originaldokumenten sowohl aus der Akte der Hempels als auch aus dem Briefverkehr Falladas, in dem er auf den Roman Bezug nimmt. Außerdem wurde ein Glossar mit wichtigen Begriffen beigegeben und eine Karte von Berlin, auf der alle wichtigen Orte verzeichnet sind, die im Roman vorkommen. Ein circa zehnseitiges Nachwort ordnet den Roman in seinen zeithistorischen Kontext ein.
"Jeder stirbt für sich allein" ist vor allem ein psychologischer Roman. Fallada geht es darum zu zeigen, was mit Menschen geschieht, die in einer Gesellschaft leben, in der Angst und Misstrauen nicht vor einem Regime, sondern in erster Linie voreinander das Zusammenleben bestimmen. In diesem Roman stirbt nicht nur jeder für sich allein, die meisten Figuren leben auch für sich allein. Wenn jeder Nachbar, jeder Kollege, jeder Mensch, den man auf der Straße trifft, ein potentieller Verräter ist, so beherrscht die Angst jeden, auch die Menschen, die sich im Sinne des Regimes "korrekt" verhalten. Falladas Roman ist eine Studie darüber, wie der nationalsozialistische Terror durch das Medium Angst bis in die kleinsten Äderchen des Privaten vorgedrungen ist.
Die meisten Figuren in dem Roman sind keine heroischen Widerstandskämpfer. Es sind Menschen, die überleben wollen und dafür auch dann opportunistisch werden, wenn es gar nicht notwendig ist. Es ist dieser Faktor, den die beiden Hauptfiguren nicht erfassen. Während sie sich ausmalen, welch große Wirkung ihre Karten haben, wird fast jede einzelne der Gestapo übergeben, von Menschen, die sich bereits durch das Auffinden einer solchen Karte in Lebensgefahr sehen.
So geht es denn in dem Roman auch nicht darum, ob die Figuren überleben, ob sie ihren Kampf gewinnen. Von Anfang an wird deutlich, dass sie verlieren und dass sie von der Gestapo gefasst werden. Dass ihr Wirken ohne Wirkung bleibt und dass das Regime sie überleben wird. Die Hoffnungslosigkeit, die dieser Stoff vermittelt, ist allerdings von Fallada nicht bis zur letzten Konsequenz getrieben worden. Auch wenn Verrat, Einsamkeit und auch viele brutale Szenen die Grundmelodie des Buches bilden, brachte er es nicht über sich, den Leser völlig ohne Hoffnung zurückzulassen.
So lernt Otto Quangel zum Ende des Buches von einem intellektuellen Zellenkollegen, dass sein Widerstand doch nicht nutzlos war, wenn er dadurch nur selbst anständig geblieben ist - Worte, die er später selbst einem Mitläufer wiederholt, der ihn fragt, wofür das alles. An solchen Stellen wird das Buch kitschig. Der Intellektuelle, der dem Facharbeiter sein eigenes Handeln erklären muss, und ein Mitläufer, der geknickt einsehen muss, dass der Widerstandskämpfer doch der Anständigere von beiden ist. Die Message des Buches wäre ohne solche Szenen auch und besser angekommen.
Ebenfalls muss negativ angemerkt werden, dass das Buch etwas redundant ist und der Leser sich an manchen Stellen sowohl von Wiederholungen als auch von zu einfachen Formulierungen gestört fühlt. Dies führt zu unnötigen Längen. Diese stilistischen Schwächen mindern aber die grandiose Beschreibung des Alltags im Nationalsozialismus nur wenig. Es dürfte wenige Romane geben, die ähnlich intensiv vermitteln, welchen Mutes es bedarf eine Überzeugung zu haben, wenn man jeden Mitmenschen fürchten muss.