Der zwölfjährige Anand lebt mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Mira im Elendsviertel von Kalkutta. Um die Mutter zu unterstützen, schuftet der Junge jeden Tag in einem Teeausschank für den tyrannischen Haru.

Einst war Anands Leben glücklicher: Er besuchte die Schule, die Familie lebte in einer eigenen Wohnung mit Balkon, es war genug zu essen da. Doch dann veränderte sich schlagartig alles. Anands Vater ging nach Dubai, um dort mehr Geld zu verdienen. In den ersten Monaten trafen regelmäßig Überweisungen mit Geld ein, doch eines Tages verschwand der Vater und mit ihm auch das Geld, das die Familie so dringend benötigt. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr von Anands Vater. Dann trifft ein weiterer Schicksalsschlag die kleine Familie: Mira muss einen Mord mit ansehen. Sie zieht sich völlig in sich zurück, wird apathisch und spricht nicht mehr.

Anand, der Märchen und versponnene Geschichten liebt und insgeheim daran glaubt, dass die Welt von Magie erfüllt ist, wünscht sich mit aller Macht ein anderes Leben. Und sein Wunsch wird wundersamerweise erhört: In Harus Teestube taucht ein merkwürdiger alter Mann auf. Der herzlose Besitzer wirft den Alten kurzerhand hinaus, doch Anand verspürt Mitleid mit dem ärmlich wirkenden Greis und schenkt ihm sein Frühstück, obwohl er selbst großen Hunger hat.

Der Alte bedankt sich und verschwindet - und taucht am gleichen Abend in der Wellblechhütte auf, in der Anand mit seiner Familie mehr schlecht als recht lebt. Was er erzählt, ist der Beginn eines unglaublichen Abenteuers: Er heißt Abhaydatta, ist ein mächtiger Heiler und gehört zu einer Bruderschaft, die in einem verborgenen Tal im Himalaja, dem Silbertal, lebt. In diesem Tal hütete die Bruderschaft seit unzähligen Jahren eine magische Muschel, die ein Geschenk der Götter aus alten Zeiten ist und große Kräfte besitzt. Doch der Verräter Surabhanu schlich sich in den Orden ein und stahl die Muschel, um sie für seine bösen Zwecke zu missbrauchen.

Dem Meisterheiler Abhaydatta gelang es unter großen Mühen zwar, sie wieder zu erlangen, doch der böse Surabhanu und seine Späher und Helfer sind auf der Lauer und gieren nach dem magischen Gegenstand. Die Muschel muss auf schnellstem Weg zurück ins Silbertal gebracht werden, und kein anderer als Anand soll Abhaydatta begleiten und ihm helfend zur Seite stehen. Ihnen schließt sich das Straßenmädchen Nisha an. Zu dritt brechen sie ins Gebirge auf.

Mit einem Schlag wird nun alles, was Anand heimlich gehofft und sich erträumt hat, wahr: Neben all der Armut, neben dem hässlichen und grausamen Alltag gibt es eine wundervolle Welt voller Abenteuer und Magie. Doch die Reise ins Silbertal birgt unzählige Gefahren und Hindernisse, die weitaus weniger wunderbar sind, als der Junge sich ausgemalt hatte. Anand und Nisha müssen zahlreiche Prüfungen bestehen, denn nichts ist so, wie es scheint …

"Anand und das Geheimnis des Silbertals" ist der erste Teil einer Trilogie mit dem Namen "Die Muschelbrüderschaft". Klangvoll und exotisch wie der Name der indischen Autorin - Chitra Banerjee Divakaruni - ist diese klassische Fantasygeschichte vom Kampf zwischen Gut und Böse. Zwar sind die Zutaten nicht neu: ein armer Junge, der von Abenteuern und Magie träumt, ein lebhaftes Straßenmädchen, ein gütiger alter Mann, der sich als spiritueller Führer erweist, ein magischer Gegenstand, der große Kräfte besitzt und der in den falschen Händen Fürchterliches anrichten kann, ein bösartiger Gegenspieler und eine Reise voller Hindernisse. Dies alles kennt man aus vielen anderen Erzählungen, dennoch wirkt nichts an Divakarunis wundervoller Geschichte abgenutzt.

Indien bietet einen prächtigen, bunten und für Europäer durchaus fremdartigen Rahmen - man meint fast, die Farben der Gewänder, die Dialekte der Menschen, die Gerüche von Speisen und Gewürzen, die die Autorin beschreibt, wahrzunehmen. Sehr reizvoll ist neben der örtlichen Ansiedlung auch der zeitliche Rahmen: "Anand und das Geheimnis des Silbertals" spielt in der Gegenwart, kann deshalb auf moderne Technik zurückgreifen und auf verstaubtes Fantasy-Ambiente verzichten. Obwohl Zauberei eine tragende Rolle spielt, bleibt die Geschichte immer sehr realistisch. Zugleich ist sie märchenhaft und zeitlos genug, um große und kleine Zuhörer mühelos in ihren Bann zu schlagen.

Divakaruni greift für die Trilogie zwar auf sehr eingängige Charaktere zurück, diese sind jedoch durchweg so schön ausgearbeitet, so dass sie nicht klischeehaft wirken. Im Mittelpunkt steht Anand, der trotz seines jungen Alters viel Verantwortung tragen muss und ständig von Zweifeln und Schuldgefühlen geplagt wird. Im Verlauf der Geschichte muss Anand weit reichende Entscheidungen treffen, er begeht jedoch oft genug Fehler und wird somit umso sympathischer. Die quirlige Nisha gibt sich zwar dickköpfig und selbstbewusst, im Grunde genommen ist sie aber ein verlorenes Kind. Der Meisterheiler Abhaydatta ist gütig und weise, nimmt sich der beiden Kinder wie ein Großvater an und verfügt zudem über magische Fähigkeiten. Der unheimliche Surabhanu schließlich, der ein Gewand in der Farbe getrockneten Blutes trägt, dürfte vor allem kleinen Zuhörern den einen oder anderen Schauer über den Rücken jagen. Die Geschichte entwickelt sich recht langsam, sie besitzt jedoch einige ungeheuer spannende Szenen und wirkt nie langatmig.

Das hier rezensierte Hörbuch, erschienen im Verlag Steinbach Sprechende Bücher, umfasst insgesamt sechs CDs mit einer Gesamtspiellänge von 486 Minuten; es handelt sich um eine ungekürzte Lesung. Die Geschichte ist für Kinder ab neun Jahren empfohlen, jedoch werden auch Erwachsene großen Spaß an ihr haben. Gelesen wird das Hörbuch von Markus Hoffmann, der sich als Glücksgriff entpuppt: Seine bedächtige, sorgfältige Art zu lesen macht es äußerst angenehm, ihm zuzuhören. Zudem kann Hoffmann mit Modulationen seiner Stimme wunderschöne Betonungen und Stimmungen erzeugen, die einen richtig in der Geschichte um Anand und die magische Muschel versinken lassen.

Eine klare Kaufempfehlung für alle, die Fantasy-Reihen mögen, welche auf übliche Elemente wie Drachen und Schwerter verzichten. Der exotische Rahmen - schließlich gibt es auf dem europäischen Markt nicht viel indische Kinder- und Jugendliteratur - bietet einen zusätzlichen Reiz und gerade für Jüngere einen Einblick in andere Kulturen, Lebensumstände und Denkweisen.

Die Geschichte um die Muschelbruderschaft wird in Teil 2 der Trilogie "Anand und der magische Spiegel" fortgesetzt.