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Cherry ist neun Jahre alt, als ihre Mutter entscheidet, das Leben nicht mehr aushalten zu können. Der Ehemann, der sich so sehr verändert hat und sich lieblos verhält, die kleine trotzige Tochter, die große, aber schweigende und kalte Wohnung können sie nicht mehr im Leben halten, also springt sie aus dem Fenster des Wohnzimmers. Das ist der erste von vielen letzten Tagen in Cherrys Leben. Der Vater will sie nicht haben, das macht er mit jedem seiner so geschliffenen Sätze deutlich.
Allein und einsam wächst sie auf, die Zuwendungen ihrer Stiefmutter sind nicht genug für das traumatisierte Mädchen. Als sie schließlich mit 14 Jahren am Weihnachtsabend wieder mit ihrem Vater aneinander gerät, zieht sie kurzerhand zuhause aus. Zu ihrem Glück findet ihr ehemaliger Schwimmtrainer Landon sie ohne Jacke und ohne Ziel auf den verschneiten Straßen Berlins. Er nimmt das Mädchen mit nach Hause und adoptiert sie sozusagen, nimmt die nächsten Jahre den Kampf gegen die inneren Dämonen auf, den Cherry selbst nicht kämpfen will und kann.
Nach ihrem Erstling "Splitterfasernackt" war Lilly Lindner eine Zeit lang der Liebling vieler Leser und Rezensenten. Wie dieses Mädchen mit Worten umging, war eine Sensation - und ist es noch, denn sie hat nichts von ihrem Sprachgefühl verloren. "Bevor ich falle" ist eine packende und tragische Geschichte, die fast ein Märchen erzählt. Das Märchen eines unglücklichen und einsamen kleinen Mädchens, das schnell erwachsen wird, oftmals fast den Halt verliert und nur von wenigen Personen aufgefangen wird. Ob es ein märchenhaftes Happy End gibt oder nicht, muss sich zeigen, auch, ob eine Person mit diesen Verletzungen und dieser Vergangenheit überhaupt ein wirkliches Happy End erleben kann. Dadurch wird dieses Buch so berührend: Nicht nur, dass die Kapitel einen tiefen Blick in Cherrys Seelenleben gewähren, man wünscht diesem Charakter so sehr, dass er sein Glück findet. Was auch immer Glück für jeden Einzelnen bedeuten mag. Und das, obwohl Cherry nicht einmal immer sympathisch ist. Oft ist diese Protagonistin arrogant wegen ihrer Intelligenz und ihres Sprachgefühls, mit ihren Sätzen verletzt sie im Laufe des Buches jeden, der ihr nahe steht, egal, ob er es verdient haben mag oder nicht. Wie sie mit Menschen umgeht, erinnert an ein gejagtes und in die Enge getriebenes Tier, das nach allem schnappt, was ihm zu nahe kommt.
Vor allem aber ist "Bevor ich falle" sprachlich fesselnd und irrsinnig wortgewandt. Lilly lässt ihre Protagonistin eine Wortkünstlerin sein, die nicht schreiben will. Das hindert sie aber nicht daran, Sätze zu denken und zu sprechen, die dem Leser direkt ins Mark gehen und noch lange nachhängen. Es ist empfehlenswert, mit einem Stift zu lesen, um sich die ganzen großen und kleinen Wortschätze anstreichen zu können, um sie jederzeit wiederzufinden. Dabei sind nicht nur Neuschöpfungen so beeindruckend, sondern vor allem die Art, wie normale Wörter und Sätze auseinander genommen und neu zusammengesetzt werden, um den Sinn zu verdeutlichen oder auch zu ändern. Eingeleitet wird jedes Kapitel von einem kurzen, gedichtartigen Text, mal auf Deutsch, mal Englisch. Die Beschreibungen, wie Cherry durch das früh erlittene Trauma und die Schuldgefühle immer mehr in Schräglage gerät und droht, vollends aus dem Leben zu gleiten, ist eindringlich und voller Wortgewalt beschrieben. Erst die gelungenen Formulierungen bringen so wirklich nahe, wie sehr Cherry leidet.
Das einzige, was diesem Buch fehlt, ist eine Triggerwarnung: Die Darstellung von selbstverletzendem Verhalten und seinen Auswirkungen, Selbstmordversuche und die mal mehr, mal weniger starken Andeutungen einer Essstörung sind nicht für jeden gleichermaßen gefahrlos lesbar.
Dieses Buch kann man nicht mal zwischendurch lesen, es saugt einen in die Zeilen und lässt einen am Ende erschöpft wieder aus seinen Fängen, ganz los wird man es aber lange nicht. Das beschriebene Schicksal ist das eine, was so sehr fesselt, die Bilder, die durch die Wörter entstehen, das andere. Einziges Manko ist das letzte Kapitel, das zu aufgedreht, zu übertrieben wirkt und so gar nicht zum Rest des Buches passen will.
Hier kann online in den ersten Seiten des Buches geblättert werden.