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 Anden

Fotos von Pablo Corral Vega


Cover
Gesamt +++++
Bildqualität
Preis - Leistungs - Verhältnis


Wer die Augen schließt und an die fernen Anden denkt - an diese mächtige Gebirgskette Südamerikas - dem kommt wahrscheinlich zuerst eine menschenleere öde Landschaft in den Sinn. Doch wie abwechslungsreich diese sich auf 7379 Kilometer von Patagonien bis zur Karibik ziehende Berglandschaft ist und in welch vielseitiger Art und Weise die Menschen dort leben, zeigen der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa und der ecuadorianische Fotograf Pablo Corral Vega gemeinsam im Bildband "Anden" der National Geographic Society.

Das quadratische Hochglanz-Werk besteht aus Aufnahmen, die auf Corral Vegas Reise quer durch die Anden entstanden und zu denen der bekannte peruanische Schriftsteller Vargas Llosa seine Fantasien, Fiktionen und Fabeln schrieb. Beim Entwickeln dieser Wortbilder erlaubte sich Vargas Llosa dieselben Freiheiten, die er beim Schreiben eines Romans genießt. "Ich habe die abgebildete Realität mit meinen eigenen Visionen und Gedanken verwoben und diese Kombination zu einem neuen Ganzen verschmolzen."

So blickt der Leser beispielsweise auf eine Fotografie des chilenischen Malers Carlos Manríques, der in einem kleinen Dorf in Chile gerade ein kleines Mädchen mit ernstem Geschichts- ausdruck zeichnet. Vater und Schwester der Kleinen schauen dem Spektakel fröhlich zu. Vargas Llosa stellt sich den 70-jährigen Porträtzeichner in seiner kleinen Erzählung folgendermaßen vor: Das Ziel des Malers ist es "Menschen glücklich zu machen. Nichts bringt diesem Herzen, das seit über siebzig Lenzen schlägt, mehr Genugtuung als die Freude auf dem Gesicht eines Passanten, der ihm ein paar Minuten lang Modell gesessen hat und nun sein Gesicht auf dem Skizzenblock erkennt - ein wenig geschönt gegenüber dem wahren Leben." Damit Kinder ruhig sitzen, "erzählt er ihnen Geschichten, während er ihnen zugleich ihre Geheimnisse entlockt und sie in das Porträt einfließen lässt. Auf diese Weise macht er sie doppelt glücklich."

Die Bilder von Corral Vega zeigen die beeindruckenden "Cordilleras" mit hoch aufragenden, vergletscherten Vulkanen, Schwindel erregende Schluchten und riesig leere Weiten, über denen gelegentlich ein Kondor seine Kreise zieht. Des Weiteren sieht der Leser historische, vorspanische Ruinen unter- gegangener Kulturen, deren Tempel, Festungen, Straßen, Städte und Götter die Zeiten überdauert haben. Der Fotograf stellt jedoch nie die Natur oder die historische Vergangenheit in den Vordergrund, sondern vielmehr den Menschen und seine augenblickliche Realität. Natur und Geschichte haben für Corral Vega insofern Bedeutung, als sie Bezug zum modernen Leben haben und dazu beitragen, die sozialen Probleme der Anden in ihrem vollem Ausmaß begreifbar zu machen. Die Fotografie ist für ihn eine Kunst, ganz ohne Frage, aber eine Kunst, die es ermöglicht, den Menschen näher zu kommen und sie besser verstehen zu lernen.

Eine Fotografie, die bei der Fiesta der Virgen des Carmel im peruanischen Paucartambo aufgenommen wurde, zeigt zum Beispiel eine Frau vom Land, die ihren Kopf vor einem Heiligenbild entblößt. Vargas Llosa, der selbst im süd- peruanischen Bergland, in Arequipa, geboren wurde stellt sich die Gedanken dieser Frau so vor: "In den hundert, vielleicht tausend Jahren meines Lebens habe ich in diesem Dorf alles gesehen. Aufstände, Morde, Erdbeben, Kriege, Epidemien, Visionen und eine ganze Riege verschiedener Regierungen. Nichts wird jemals besser, alles kommt immer nur noch schlimmer. Ich habe viel Unglück gesehen, aber auch Schönes. Zum Beispiel damals, als der Heiland in Gestalt eines Lammes erschien. Er erschien mir, nur mir."

Pablo Corrals Andenbild legt keinen beschönigenden Schleier über die Armut, die Ausgrenzung, die Erniedrigung und Benachteiligung, die das Leben der dort lebenden Millionen Männer und Frauen bestimmen. Doch seine Bilder beinhalten immer etwas Positives. Die Fotografien zeigen Menschen, die ausgebeutet wurden und in tiefer Armut leben. Und trotzdem zeigen sie Lebensfreude: die Freude am Feiern, am Verkleiden und Tanzen und das Glücksgefühl bei prächtigen Heiligen- prozessionen.

Im Bildband findet sich eine Aufnahme vom Karneval im bolivianischen Oruro. Ein Tänzer kniet vor einer Madonna nieder und nimmt seine Teufelsmaske ab. Vargas Llosa schreibt hierzu: "Karneval feiern heißt in allererster Linie so tun als sei die Lüge des Glücklichseins wahr. So tun, als seien alle Menschen gleich, frei, wohlhabend und gesegnet, als sei das Leben einzig dazu da, genossen zu werden. Das ist Karneval in Oruro: ein schöner Traum und - ein paar Tage lang - das Gefühl, das Leben sei ein Traum und ein Traum Wirklichkeit."

Die schönen und beeindruckenden Aufnahmen Corral Vegas bilden mit den poetischen Worten Vargas Llosa eine gelungene Einheit. Die Bilder ziehen den Leser in den Bann und die Geschichten liefern auf künstlerische Weise Hintergrund- information über das Leben in den Anden mit seinen positiven und negativen Seiten. In dem Werk der beiden Südamerikaner wird immer wieder deutlich, wie wichtig ihnen ihre Berge sind. Für Corral Vega ist das Leben in den Anden, immer eines zwischen zwei Welten. "Wir stehen auf den eisigen Höhen, die feucht brütende Hitze der Tropen direkt unter uns, versunken in eine harte, von Widersprüchen beherrschte Realität, doch einen magischen Ort erträumend, wo alles möglich ist."

Auch die Worte Vargas Llosas lesen sich wie eine Liebeserklärung an die Anden: "Und obwohl ich den größten Teil meines Lebens an der Küste verbracht habe, bin ich doch immer wieder zurückgekehrt, die Anden zu besteigen, ihre reine Luft zu atmen und in meinem Blut den Rausch der Höhe zu spüren. Dann fühle ich mich wie der verlorene Sohn, der bei seiner Heimkehr durch das Geschenk der Erinnerung an sein Vaterland und die geliebten Menschen wieder findet." Der gefühlvolle Umgang mit Bild und Text überträgt sich auf den Leser. Auch für den deutschen Leser werden die südamerikanischen Anden ein majestätischer, spektakulärer und überwältigender Ort. Ein Ort, dem man Respekt entgegenbringt.

Nikola Poitzmann



Hardcover | Erschienen: 1. September 2004 | ISBN: 393438563X | Preis: 39 Euro | 158 Seiten | Sprache: Deutsch

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