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"I would like you to meet my brother. I have been drawn to photographing him for as long as I have been making pictures. The time I spend with him, looking through my camera, has forced me to ask questions about suffering and faith and why anyone is born with disability."
So beginnt der Fotoband, den der Fotograf Christopher Capozziello seinem Zwillingsbruder gewidmet hat.
Es sind manchmal nur Augenblicke, die über ein Schicksal entscheiden; im Fall von Chris und Nick Capozziello wenige Minuten während der Geburt. Chris, der ältere Zwilling, kommt gesund zur Welt. Nick wirkt auf den ersten Blick ebenfalls wie ein ganz normales Neugeborenes, doch bereits als Kleinkind zeigt er erste Symptome der infantilen Zerebralparese, einer durch Sauerstoffmangel zustande gekommenen körperlichen Behinderung.
Chris bleibt auch als Erwachsener und erfolgreicher Fotograf dem Bruder eng verbunden, der immer wieder mit äußerst schmerzhaften Krampfanfällen kämpft und auch in relativ guten Phasen motorisch eingeschränkt ist. Nick lässt sich von Chris fotografieren, selbst in seinen schrecklichsten Momenten, aber auch, wenn er sich wohlfühlt.
Daraus resultierte der hier besprochene Band: Chris begleitet seinen Zwillingsbruder sowohl fotografisch als auch mittels (englischen) Texten erzählend durch einen längeren Abschnitt von dessen Leben, porträtiert ihn in den unterschiedlichsten Situationen, aus den verschiedensten, oft kühnen Perspektiven, allein, mit Familienangehörigen, mit seiner Ratte, mit Freunden und Fremden. Schließlich wagen sich die Brüder sogar auf eine gemeinsame Reise durch die USA. Am Ende steht die Geschichte von Nick. Und gleichzeitig die Geschichte von Chris.
Der Drang, den behinderten Bruder zu fotografieren, ist wohl aus einer gewissen Verzweiflung heraus geboren, sie stellt für Christopher Capozziello eine, vielleicht die einzige Möglichkeit dar, seine Beziehung zum Bruder aufzuarbeiten.
Natürlich bringt eine derart außergewöhnliche Konstellation auch Fotos hervor, die ganz anders sind und wirken als die üblichen Fotos von behinderten Menschen: Dieser Band zeigt einen Facettenreichtum bei der Annäherung an den vom Körper so oft im Stich gelassenen und gequälten Menschen, der seinesgleichen sucht. Oft sind die Fotos geprägt von einer eigenartigen Mischung aus der Distanz des dokumentierenden Fotografen und den intensiven Gefühlen, die gerade aufgrund dieser einer inneren Notwehr ähnelnden Distanz fast hautnah erlebbar werden - vor allem in der Sequenz um einen besonders schlimmen Krampfanfall. Der Betrachter erlebt Nicks Qualen und die seiner Hilfe leistenden Eltern unmittelbar mit, den Schmerz, die panische Angst, die Verzweiflung, die Erschöpfung.
Und nicht minder fesseln die anderen Fotos. Ein scheinbar ganz normaler Nick beim Karaoke oder unterwegs, dann wieder im Krankenhaus oder zu Hause mühsam die Treppe hochsteigend. Chris' Kamera beschönigt nichts und fängt ein, was der Fotograf sieht: ohne Überheblichkeit, ebenso jedoch ohne das falsche, schon aufdringliche Mitleid fordernde Pathos, dem man bei der Randgruppenfotografie so oft begegnet und das meist eine ungute Lust an der Sensationsmache kaschiert.
Wie die Fotos dienen auch die Texte einfach dazu, Nicks Geschichte zu erzählen. Gerade dadurch berühren sie sehr tief.
Während der Reise mit Nick - ein erfüllter Traum der beiden Brüder - fotografiert der ansonsten der Schwarz-Weiß-Fotografie verpflichtete Chris in Farbe. Einige abschließende Fotos und Kommentare stammen von Nick selbst, dies gibt dem Buch noch einmal eine besondere Wendung.
Eine wunderbar schlichte und doch edle Aufmachung unterstreicht Gehalt und Wert des Buchs.
Nicht nur an Fotografie interessierte Menschen werden feststellen, dass sich dieser Band nur schwer zur Seite legen lässt; er will wieder und wieder betrachtet, gelesen und durchlebt werden; er geht enorm unter die Haut und rührt an das zutiefst Menschliche in jedem von uns.
Einige der
Fotos aus dem Band sowie zahlreiche spannende Informationen, auch zu Ausstellungen und anderen Veranstaltungen im Zusammenhang mit dem Buch, finden sich auf der Verlagsseite zum Buch. Hineinschauen lohnt sich!