Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Brutalität | |
Gefühl | |
Humor | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
Als der elfjährige Byron von seinem Freund James erfährt, dass dem aktuellen Jahr, 1972, zwei Schaltsekunden hinzugefügt werden sollen, gerät seine Welt ins Wanken, denn wie soll aus dem Nichts neue Zeit entstehen, auch wenn es sich nur um einen Augenblick handelt?
An einem nebligen Morgen fährt Byrons Mutter den Jungen und seine Schwester zur Schule und nimmt eine Abkürzung durch ein Armenviertel. Völlig unvermittelt fühlt Byron, dass genau jetzt die beiden Sekunden ergänzt werden, es ist ein sonderbarer Schwindel, der ihn erfasst; und just in diesem Moment sieht er, wie ein kleines Mädchen auf einem roten Fahrrad aus dem Nebel auftaucht und vom Auto erfasst wird. Doch seine Mutter fährt weiter, als ob nichts geschehen wäre. Und in der Tat scheint es, als ob der Unfall nie stattgefunden hätte.
Byron verzweifelt jedoch daran; sein Freund kann ihm nicht helfen, und schließlich überzeugt er seine Mutter davon, dass es einen Unfall gab und sie das kleine Mädchen suchen müssen. Damit bringt er eine Lawine ins Rollen, die seine Familie mit sich reißt und verschlingt.
Parallel zu den Vorkommnissen aus dem Jahr 1972 präsentiert ein Handlungsstrang in der Gegenwart einen etwa fünfzigjährigen Mann namens Jim, aus einer psychiatrischen Einrichtung entlassen, der verzweifelt versucht, in der Außenwelt Fuß zu fassen. Und auch hier bringt ein Autounfall eine Wende.
Es wurden tatsächlich 1972 erstmalig Schaltsekunden zur Anpassung an die Ungenauigkeiten der Erdrotation eingeführt, wie sie auch heute immer wieder und von den meisten Menschen unbemerkt eingeschoben werden. Für den elfjährigen Byron, dessen hochbegabter Freund ihm von der Maßnahme erzählt hat, werden diese beiden Sekunden ein lebenslanges gewaltiges Echo haben, obwohl sie keineswegs an dem Tag "generiert" wurden, an dem er sie zu erleben meint.
Und es geht sehr rasch nicht mehr nur um die Ängste eines Kindes, sondern um eine instabile Familie, mit einem tyrannischen, reichen Vater, einer von diesem eingeschüchterten, wirklichkeitsfremden Mutter und Kindern, die an diesen Verhältnissen zerbrechen; ebenso jedoch um die gesamte englische Mittelschicht jener Zeit, patriarchalisch, in einer scheinbar idyllischen Parallelwelt lebend, verlogen und oberflächlich, in die Byrons Familie aufgestiegen ist.
Jim, der Protagonist aus dem um vierzig Jahre verschobenen anderen Handlungsstrang, gehört zu jenen, die auf der Strecke geblieben sind, weil sie die ungeschriebenen Regeln dieser Schicht nicht befolgen konnten oder wollten.
Die Suche nach der Wahrheit, die so relativ ist wie Raum und Zeit, steht im Zentrum dieses in einer sehr poetischen Sprache verfassten Romans. Es gelingt der Autorin, einen heißen Sommer darzustellen und zugleich auf meisterliche Weise eine düstere, bedrückende Stimmung zu schaffen, die den Leser wie ein Sog erfasst und mit sich zieht in Richtung der sich zunehmend klar abzeichnenden Katastrophe. Dem gegenüber steht der zweite Handlungsstrang, in dem ein Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit zu dominiert, doch, gegenläufig zur Geschichte von 1972, ahnt der Leser einen Lichtschimmer am Horizont.
Zwar kommen einige Passagen etwas schleppend voran, und man könnte auch kritisieren, dass die Protagonisten überzeichnet wirken, vor allem Byrons sehr naive Mutter. Wer jedoch bereit ist, sich auf die surreale Stimmung des Romans einzulassen – und darauf zielt die Autorin ab -, wird die Figuren als perfekt auf ihre Welt abgestimmt empfinden, eine Welt, deren Absurdität und Falschheit sich mit Fortschreiten der Handlung zunehmend offenbart, bis die zentralen Charaktere an ihr scheitern. Und doch gibt es Freundschaft und Liebe, in dieser überspannten, bis zur Groteske selbstgerechten Mittelschichtwelt ebenso wie in Jims Umgebung, die für das hedonistisch-saturierte gehobene Bürgertum den Bodensatz der Gesellschaft darstellt. Rachel Joyce versteht es meisterlich, zwischenmenschliche Wärme und echte Gefühle, die manchmal überraschend aufflammen, falschen Freundschaften und einer Liebe, die auf Besitzdenken basiert, gegenüberzustellen.
Ein starker Roman, den zu lesen sich definitiv lohnt!
Eine
Leseprobe wird auf der Verlagsseite zum Buch angeboten.