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 Großer Bruder

Autoren: Lionel Shriver
Übersetzer: Susanne Hornfeck
Verlag: Piper

Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Pandora Halfdanarson war immer die kleine Schwester, die voller Bewunderung zu ihrem großen Bruder Edison aufgeblickt hat - schließlich war Edison derjenige, der eine spektakuläre Karriere als verwegener Jazzpianist in New York hinlegte; er war stets der coole und gutaussehende Typ, der von den Mädchen umschwärmt wurde. Als Edison sich für einen längeren Besuch ankündigt, ahnt Pandora daher nicht, wie sehr sich ihr Bruder seit ihrem letzten Treffen verändert hat. Als sie ihn am Flughafen abholt, kann sie nur mühsam ihr Entsetzen verbergen: Edison, einst sportlich, schlank und lässig, hat sich in einen massiv übergewichtigen Riesen am Rande der völligen Immobilität verwandelt, der sich nur mühsam einen Weg durch den Alltag bahnen kann. In Pandoras gut organisierter Familie, bestehend aus ihrem gesundheitsfanatischen Mann Fletcher und dessen beiden Kindern, schlägt Edison ein wie eine Bombe - nicht nur durch die schiere Wucht seines enormen Körpers, sondern auch durch seine egozentrische und prahlerische Art, die das Zusammenleben mit ihm zu einer Geduldsprobe macht.
Schließlich kommt Pandora die rettende Idee: Sie stellt Edison ein Ultimatum. In einem Jahr soll ihr großer Bruder wieder sein Normalgewicht erreichen - unterstützt von Pandora, die für diese Zeitraum mit ihm in eine Wohnung ziehen will. Doch Fletcher ist begreiflicherweise dagegen, dass seine Frau auszieht - er hält das Projekt von vorneherein für zum Scheitern verurteilt und verachtet Edison. Bald schon kämpft Pandora nicht nur für das Leben ihres Bruders, sondern auch um ihre Familie und ihren Mann ...

"Wie den meisten Menschen sind mir die Leibspeisen meiner Kindheit am stärksten im Gedächtnis geblieben, und wie den meisten Kindern schmeckten mir simple Dinge am besten: Toast, Backpulverplätzchen, Salzcracker. Mein Gaumen hat sich im Erwachsenenalter weiterentwickelt, nicht aber mein Charakter. Als kleines Mädchen war ich die Folie, vor der andere sich produziert haben, und so ist es geblieben."


"Großer Bruder" von Lionel Shriver erzählt nur vordergründig die Geschichte einer erwachsenen Frau, die ihrem massiv übergewichtigen Bruder beim Abnehmen helfen will. In Wirklichkeit geht es um andere Dinge, auch wenn Nahrungsaufnahme und -verweigerung, Selbstkasteiung, Genuss und Ekel, Selbsthass und Askese die ganze Zeit Thema sind. Shriver, die vor allem durch ihren Roman "Wir müssen über Kevin reden" bekannt wurde - dort erzählt sie aus der Sicht einer Mutter, deren Sohn bei einem Amoklauf zahlreiche Kinder und Lehrer tötet - ist viel zu redegewandt, viel zu klug, um die Geschichte auf dieser einseitigen Ebene zu belassen. An der Seite von Pandora taucht der Leser tief in die Geschichte und das Schicksal der Familie Halfdanarson ein, die geprägt ist durch schwierige Beziehungen, durch Dramen und Enttäuschungen.
Pandora, die Ich-Erzählerin, ist sympathisch, selbstkritisch und erfolgreich, aber unterschätzt sich selbst hoffnungslos, während ihr Bruder Edison bis zum Blendertum ein Selbstüberschätzer ist. Sehr interessant und mitunter auf böse Art amüsant zu lesen ist auch, wie die beiden Extreme Edison und Fletcher aufeinanderprallen - der eine fettleibig und essgestört, der andere ebenfalls bis an den Rand einer Essstörung asketisch und wahnhaft diszipliniert. Und immer, wenn sich beim Leser leichte Enttäuschung einstellt, dass Lionel Shriver hier doch womöglich Diäten und schöne Körper als Weg zum Glück preist, macht die Geschichte einen unvorhergesehenen Schlenker und rückt alles wieder ins rechte Licht. Am Ende vollzieht die Handlung dann eine überraschende und schmerzhafte Kehrtwende, die aber nur konsequent ist und zeigt, dass Shriver vor allem die Realität im Blick hat. Der Bruder der Autorin starb übrigens mit nur 55 Jahren an den Folgen seines Übergewichtes, dennoch will Lionel Shriver den Roman nicht als Autobiografie verstanden sehen.

Sprachlich ist Shriver originell, stellenweise sogar brillant; sie legt messerscharf den Finger in emotionale Wunden, bleibt dabei aber auf trockene Art äußerst humorvoll. Viele Sätze sind so schön oder so wahr, dass man sie sich gerne ein zweites oder drittes Mal durchliest. Wer in den vollen Genuss ihres sehr ansprechenden Stils kommen möchte, sollte jedoch zur Originalausgabe greifen. Die deutsche Übersetzung ist gut, sie unterschlägt aber Wörter und stellenweise auch kurze Sätze komplett, was schade ist, denn der geschliffene Stil leidet ein wenig darunter, wenn auch nur im direkten Vergleich mit der englischsprachigen Ausgabe.

"Großer Bruder" ist ein emotionaler, hinreißend geschriebener Roman, der mit den Dauerbrennern Übergewicht und Diät Themen in den Mittelgrund rückt, die die meisten Menschen in den Industrieländern heute viel zu sehr beschäftigten. Dennoch geht es hier beileibe nicht (nur) ums Essen oder Nichtessen - sondern um das große Thema Familie, um die Schwierigkeit von Bindungen und Verpflichtungen, die uns ein ganzes Leben lang begleiten und aus denen wir kaum entkommen können. Sehr lesenswert!

Zur Leseprobe beim Piper Verlag: "Großer Bruder"

Christina Liebeck



Hardcover | Erschienen: 31. März 2014 | ISBN: 978-3492056250 | Originaltitel: Big Brother | Preis: 19,99 Euro | 336 Seiten | Sprache: Deutsch

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