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"Elf Tage lang wird Luca noch Sohn sein, Kind seiner Eltern, mit Vater und Mutter, die man jederzeit anrufen kann. Dann werden sie sterben. Äußerlich unversehrt und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte."
Der Schweizer Journalist und Übersetzer Nicola Bardola verlor vor sechs Jahren von einem Tag auf den anderen sowohl Mutter als auch Vater - nicht durch einen Autounfall oder ein Verbrechen, sondern seine Eltern starben auf eigenen Wunsch. Beide waren Mitglied der Schweizer Sterbeorganisation "Exit" und sind mit deren Hilfe freiwillig aus dem Leben geschieden. Den selbst gewählten Tod seiner Eltern hat der 46-jährige Autor in seinem bewegenden Debütroman "Schlemm" verarbeitet. Es ist zwar eine fiktive Geschichte, dennoch eine mit einem großen biografischen Anteil.
Der 75-jährige Bridgemeister und Mathematiker Paul Salamun und seine Frau Franca haben sich nach Pauls Krebsdiagnose entschieden, gemeinsam den Freitod zu wählen. Mithilfe der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Right of Way Society (ROWS) bestimmen sie ihren letzten Tag selbst und weihen nur ihre Söhne Luca und Reto und die Schwiegertöchter in ihre Pläne ein.
Aus den Perspektiven von Vater und Sohn nähert sich Nicola Bardola wie in einer literarischen Bridge-Partie den entscheidenden Ereignissen und entwirft damit ein fesselndes Familienporträt. Während Luca versucht, die Beweggründe seiner Eltern zu begreifen, lässt Paul bei der letzten Wanderung mit seiner Frau das gemeinsame Leben Revue passieren.
Gefühle wie Zweifel, Wut, Verständnis und Hilflosigkeit werden auf beiden Seiten gut dargestellt: Es geht um Paul, der nach seiner Krebsdiagnose nicht "zum hilflosen Bündel" für seine Familie werden will, um Franca, die sich nach einem erfüllten Leben einfach "lebenssatt" fühlt, um Luca, der seine Eltern nicht verlieren will und Angst davor hat, seiner kleinen neunjährigen Tochter zu erzählen, was mit ihren Großeltern geschehen ist.
Auf behutsame Weise werden die Ängste und Sorgen der Beteiligten thematisiert, ohne dass es für sie mustergültige Lösungen gibt. Paul versteht auch bis zum letzten Tag nicht, warum die schöne Franca gerade ihn, den dürren unauffälligen Mathematiker zum Mann wählte und sich ganz für die Familie hingab. Franca fällt es schwer, sich von ihrer Enkelin Nora zu lösen. Luca leidet an dem ambivalenten Verhältnis zwischen seiner Mutter und ihm, das sich nach seiner Hochzeit mit Sabine, der ungeliebten Schwiegertochter, entwickelt hat.
Gerade hier zeigt Bardola aber auch die Möglichkeit auf, wie durch die Entscheidung zum Freitod unterschwellige Probleme angesprochen und aus der Welt geräumt werden können. Durch ihren bewussten Abschied gelingt es Franca, ihrem Sohn einen Brief zu schreiben, indem sie ihr Verhalten erklärt und wodurch sich ihr "Knoten lösen" kann.
Mit "Schlemm" greift Nicola Bardola ein Tabuthema auf, das gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion um Patientenautonomie und Sterbehilfe leistet. Der Leser muss sich bei der Lektüre mit elementaren Fragen auseinandersetzen, auf die es keine allgemeingültigen, sondern nur sehr persönliche Antworten gibt: Warum beschließt ein Paar, gemeinsam aus dem Leben zu gehen? Was muten sie damit ihren Kindern zu? Ist es nur die Krankheit, die sie dazu gebracht hat, oder gibt es eine philosophische Konsequenz darin?
Bardola lässt immer wieder Zitate des französischen Philosophen Michel de Montaigne einfließen: "Genug für andere gelebt, leben wir wenigstens dieses letzte Stück Leben für uns selbst ... packen wir unsere Sachen; nehmen wir rechtzeitig Abschied von der Gesellschaft; machen wir uns los von diesen aufdringlichen Banden, die uns an anderes fesseln und uns von uns selbst entfremden."
Der Engadiner Autor Nicola Bardola hat das Spannungsfeld von Liebe und Tod und die Erforschung einer fremden Vergangenheit am Beispiel seiner Eltern zum Zentrum seines Romans gemacht. "Schlemm" ist ein Familienporträt, eine Selbstfindung und auch ein Plädoyer für mehr Würde.