Gehilfe eines Arztes wollte Sham eigentlich nicht werden, aber immerhin kann er so auf einem der großen Züge unterwegs sein und etwas vom großen Gleismeer sehen. Zusammen mit der Mannschaft folgt er den Moldywarps, riesigen Maulwürfen, die erlegt und verkauft werden. Mit der Jagd selbst hat Sham nur wenig zu tun, doch es ist für ihn trotzdem spannend diese neue Welt kennenzulernen. Auf den unterschiedlichen, verschlungenen Gleisen, die sich eins neben dem anderen quer als ein unendliches Meer über den sandigen Boden erstrecken, ist sein Zug einer von denen, die ein festes Ziel haben. Käpt'n Naphi hat, wie so viele andere Jäger auch, eine eigene Philosophie. Ihre ist der hellgelbe Maulwurf Mocker Jack. Ihn zu erlegen ist ihr erklärtes Ziel. Im Tausch für die Hand, die er ihr genommen hat und die sie durch eine künstliche hat ersetzen lassen, will sie ihm das Leben nehmen. Die anderen Tiere, die sie auf ihrer Suche erlegt, sind ihr dabei eher unwichtig. Sham merkt schnell, dass die Suche zwar nicht die seine ist, aber immerhin ist er dem, was ihn besonders fasziniert, näher als sonst irgendwo. Der Junge interessiert sich für das Artefakten, also für das Sammeln von alten Gegenständen, die man unter größter Gefahr im Gleismeer bergen kann. Manche davon sind besonders alt, andere sogar als Weltraumschrott von Besuchern einfach im Meer abgeladen worden und niemand weiß genau, wozu sie dienen. Doch dann taucht etwas auf, von dem weder Sham noch sonst jemand geglaubt hätte, dass es existiert: ein Bild vom Ende des Gleismeeres. So etwas dürfte es eigentlich gar nicht geben und doch hat Sham eine Flachografie davon gesehen. Es scheint, als hätte er fortan seine eigene Philosophie, doch dort, wo sie ihn hinführt, ist es sogar noch gefährlicher als auf dem Gleismeer selbst ...
Nein, "Das Gleismeer" ist kein neuer "Perdido Street Station"-Roman aus der Welt von Bas Lag, aber natürlich muss sich China Miéville den Vergleich mit seinem bisher beliebtesten Buch gefallen lassen. Auf jeden Fall kehrt er damit in eine Erzählwelt zurück, die viele Genre miteinander verwebt und sich nicht klar zuordnen lassen will. "Das Gleismeer" hat Steampunkelemente, viel fantastisches, einiges von einer Dystopie und sogar einen Hauch Science Fiction. Und Miévilles Interesse für Großstädte und den Müll, den sie produzieren, findet hier ebenfalls wieder seinen Platz. Ein kleiner Fun-Fakt bringt den Leser zum schmunzeln: Die Jagd nach dem großen Mocker Jack ist ganz klar an die aus dem Klassiker "Moby Dick" von Herman Melville angelehnt und die Nachnamen der beiden Autoren unterscheiden sich nur durch einen Buchstaben. Zufall? Zahlreiche weitere berühmte Autoren wurden in der Geschichte geehrt, was aber nur dann auffällt, wenn man ihre Werke (oder sie selbst) bereits kennt. Allen Interessierten sei empfohlen einfach die Liste in der Danksagung etwas genauer zu betrachten und ggf. nachzuforschen. Was beim Lesen noch auffällt, ist die Art, wie Miéville mit der Sprache spielt. Ein Foto wird zum Beispiel zu einer Flachografie. In dieser Geschichte hat er außerdem jedes "und" als Ampersant "&" geschrieben. Das liest sich auf den ersten Seiten ungewöhnlich, findet in der Handlung aber sogar seine Erklärung. Wie übrigens auch so manches andere seiner Technik, denn der fiktive Erzähler, der ja trotzdem Miéville selbst entspricht, spricht immer wieder zum Leser über seine Entscheidungen, warum er wann über was auf welche Weise schreibt.
"Das Gleismeer" liest sich wie ein klassischer Abenteuerroman - es gibt einen jungen Helden, der sich im Laufe der Geschichte erst zu einem solchen entwickeln muss und sich immer wieder mit den gefährlichsten Situationen konfrontiert sieht. Das wirklich Faszinierende an der Geschichte ist aber die Welt, in der sie spielt. Das Gleismeer ist eine bizarre, sandige Entsprechung eines Meeres aus Wasser, wie wir es kennen. Mutierte Riesentiere treiben dort ihr Unwesen und werden von Zügen aus gejagt, die wie Schiffe diese skurrile See befahren. Wo genau, also in welcher Welt oder zu welcher Zeit das alles spielt, wird nicht wirklich erklärt, aber es scheint eine ferne Zukunft unserer eigenen Erde zu sein.
Für Miéville typisch ist die realistische Ausarbeitung der Charaktere. Es gibt nicht "die Bösen" und "die Guten", jeder hat eine Aufgabe und eigene Ideale. Eigentlich gibt es überhaupt keine wirklich "bösen" Figuren, sondern nur unterschiedliche Ziele.
Ein neuer "Perdido Street Station" ist der Roman jedenfalls nicht, denn auch wenn er eine tolle Geschichte erzählt, so fehlt ihm doch die Vielseitigkeit, die diese frühere Werk hatte. Ist die Welt einmal vorgestellt, bietet sie erst ganz am Ende noch eine überraschende "Erweiterung", wohingegen "Perdido Street Station" sogar während des Romans immer wieder Neues einfließen ließ. Insgesamt macht "Das Gleismeer" eher den Eindruck, als sei der Roman für Leser geschrieben, die hauptsächlich an einem spannenden Abenteuer interessiert sind. Großen Spaß macht er trotzdem und die Beschreibung des Gleismeeres selbst ist ohne Frage phänomenal.
Trailer zum englischsprachigen Originalroman
Hier geht es zur Webseite vom Heyne Verlag mit Infos zum Buch und einer Leseprobe.