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 Null bis unendlich


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Irgendwann im Jahr 1992 setzt die Klassenlehrerin Sanela neben ihn, ein Flüchtlingsmädchen aus Jugoslawien. Da ahnt der vierzehnjährige Nils Liebe – er heißt wirklich so und wird das ganze Buch hindurch so genannt werden, mit Vor- und Nachnamen - noch nicht, dass es sich um eine schicksalhafte Begegnung handelt.

Nils Liebe liebt Zahlen, und Bücher sind ihm viel wichtiger als Menschen. Der hochbegabte Junge soll nun also Sanela bei der Eingewöhnung in die Schule helfen; sie hat im Bürgerkrieg ihren Vater verloren, nachdem bereits ihre Mutter verstorben war. Anfangs aufgrund von Sanelas fehlenden Deutschkenntnissen, später ganz von selbst kommunizieren die beiden meist nonverbal, Sanela ergreift bald die Führung, und Nils kommt eben mit. Eines Tages auch per Bahn ins bürgerkriegsgebeutelte Kroatien, wo Sanela das Grab ihres Vaters finden will. Nach der Rückkehr bricht der Kontakt jedoch unvermittelt ab, bevor sich eine echte Liebesbeziehung entwickeln hätte können. Viele Jahre später sucht und findet Sanela Nils Liebe. Sie hat inzwischen einen Sohn, Niels-Tito, und sie beginnt mit dem Jugendfreund etwas, das wie eine Partnerschaft aussieht. Auch ohne verwandt zu sein, ticken Niels-Tito und Nils Liebe sehr ähnlich, sodass der Junge den Mann im Leben seiner Mutter nicht als störend empfindet. Sie könnten eine richtige Familie sein. Aber es war nicht Liebe zu Nils Liebe, die Sanela dazu getrieben hat, den neuerlichen und engeren Kontakt anzustreben. Denn falls Sanela Liebe überhaupt kennt, ist es allein die Mutterliebe.

Dass Nils Liebe, der trotz zahlreicher Frauengeschichten Sanela nie vergessen konnte, am Ende nach wie vor ohne Liebe da steht - oder doch nicht?, hier darf der Leser rätseln angesichts des eigenwilligen Schlusses -, berührt den Leser ebenso eigenartig wie der kleine, tendenziell autistische Niels-Tito, der das "e" im Vornamen hat, das Nils Liebe in seinem eigenen immer vermisst hat. Und Sanela, die Getriebene, auf eine selbstverständliche Weise Fordernde, die stets bekommt, was sie will, damit aber nicht glücklich werden kann aufgrund ihres Dranges, zu zerstören, was ihr zu nahe kommen könnte. Sie ist nicht eigentlich sympathisch, und der Leser möchte im Grunde Mitleid mit ihr haben, aber das verbietet sich aufgrund ihrer abweisenden Persönlichkeit. Mitleid, aktiv oder passiv, passt nicht zu ihr. Ihr Gegenpart, Nils Liebe, der unablässig Analysierende, ist der in vielem mit ihm seelenverwandten und doch wieder von ihm so verschiedenen Frau letztlich verfallen. Nachdem sie ihn als Jugendliche allein gelassen hat, gelingt ihm der Absprung rund zwanzig Jahre später selbst dann nicht, als er erkennt, dass Sanela ihn im Grunde nur benutzt. Er steht alle Demütigungen durch, und am Ende weiß der Leser nicht, ob sie ihn nicht doch geliebt oder ihm nur ein ungeheures Vertrauen entgegengebracht hat, was vielleicht auf dasselbe hinauskommt.

Und so zwingt dieser Liebesroman, der eigentlich keiner ist und sich dennoch so anfühlt, den Leser zum Nachdenken über das Wesen der Liebe. Darüber, ob Liebe sich nur so äußern kann, wie wir es gewohnt sind, oder ob außergewöhnliche Menschen womöglich außergewöhnlich lieben. Die verstörende und doch poetische Beziehung zwischen den Protagonisten, den ja nicht minder eigenwilligen Niels-Tito eingeschlossen, erinnert an einen Fluss mit einer wilden Abfolge Stromschnellen, unterbrochen von kurzen Abschnitten sonnenbeschienenen friedlichen Strömens, und mit bedrohlichen Untiefen, die unerwartet auftauchen.

Lena Gorelik erzeugt eine surreale Stimmung, eine kühle Distanziertheit, wie sie selten in einem Roman auftaucht, vor allem mit solcher Intensität. Dies dürfte zu einem guten Teil am fast völligen Fehlen von Adjektiven und Adverbien liegen – ein Stilmittel, das zudem für eine sehr gedrängte Darstellung sorgt und Sanelas Getrieben- und Zerrissensein geradezu spürbar macht; ebenso jedoch Nils Liebes Drang, seine Welt "totzuanalysieren". Sentimentalität kommt in dieser melancholischen Nicht-ganz-Liebesgeschichte nicht vor. Der Roman lässt nicht los, auch lange nach Abschluss der Lektüre nicht, er beschäftigt den Leser, und es ist ein bisschen schwer zu sagen, ob er - der Roman - nun schöne Literatur ist, "belles lettres", oder einfach nur schmerzlich und irritierend. Auf jeden Fall hebt er sich aus dem Mainstream weit heraus und erhält daher die volle Sternenzahl.

Eine Leseprobe bietet die Verlagsseite.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 28. August 2015 | ISBN: 9783871348068 | Preis: 19,95 Euro | 304 Seiten | Sprache: Deutsch

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