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Wer es nicht schon vorher wusste oder ahnte, für den waren die Konzentrationslager sicherlich der Ort, an dem der nationalsozialistische Staat seine Maske abwarf und sein wahres Gesicht zeigte. Sie waren geprägt von einer rigorosen Lagerordnung, Gesetzlosigkeit und Terror. Wie viel die deutsche Bevölkerung davon mitbekam, sei einmal dahingestellt. Für alle, die sich gegen den Staat stellten oder welche die Nationalsozialisten schlichtweg als innenpolitische Gegner oder gar als "minderwertig" eingestuften, für alle jene, wurde diese Welt jedoch spätestens mit der Verhaftung und der anschließenden Verwahrung in einem Konzentrationslager Realität. Doch was verbarg sich hinter den von Stacheldraht umgebenen Lagern? Wie erlebten Häftlinge den Alltag dort? Und wie fügten sich die Konzentrationslager in das NS-Terrorsystem ein?
Möge die Welt wenigstens einen Tropfen, ein Minimum dieser tragischen Welt, in der wir lebten, erblicken.
(Brief Salmen Gradowskis vom 6. September 1944, entdeckt nach der Befreiung in einer Aluminiumfeldflasche, die auf dem Gelände des Krematoriums von Auschwitz-Birkenau vergraben war.
Auf fast tausend Seiten geht der an der Universität London lehrende deutsche Historiker Nikolaus Wachsmann der Geschichte diesen grauenhaften Orten nach. Zunächst erfolgt dies in weitgehend chronologischer Form. So reicht seine Darstellung von den frühen Lagern und dem sich entwickelnden Lagersystem der SS über die Phase der Expansion bis hin zur Entwicklung während des Krieges, in dem Massenvernichtung und Holocaust zur traurigen Gewissheit wurden. Ohne diese zeitliche Ausrichtung gänzlich aufzulösen, richtet er dann seine Darstellung etwas thematischer aus, indem er beispielsweise auf den Lageralltag, die Außenlager, die medizinischen Versuche oder die Rolle der Kapos eingeht. Abgerundet wird der Band durch ein äußerst umfangreiches Anmerkungsverzeichnis samt alphabetischer Auflistung der Quellen sowie ein detailliertes Register.
"KL" - so lautete die zeitgenössische Bezeichnung für jene Lager, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter der nun gängigen Abkürzung KZ als Inbegriff von Grausamkeit, Tod und Terror angesehen wurden. Für viele waren beziehungsweise sind sie auch gleichbedeutend mit dem Holocaust, was jedoch den Blick - bei allem Respekt vor den jüdischen Opfern - zu sehr verengt, da in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern viele andere Opfergruppen vertreten waren und auch die Funktion der Lager weit vielschichtiger waren, als dies gemeinhin angenommen wird. Genau diese differenzierte Sichtweise zeichnet Nikolaus Wachsmanns umfangreiche Abhandlung zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager aus und so blickt er eben auch auf die Täter, die genauso wie die Opfer nicht stereotypisiert werden können. Denn "nicht jeder Wärter beging Gräueltaten, und nur wenige waren psychisch abnorme Persönlichkeiten". Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass auch deren Handeln von großen Unterschieden geprägt war.
Trotz der enormen Detailfülle und des gewaltigen Umfangs gibt Wachsmann seiner Darstellung eine klare Struktur, die sehr gut nachvollziehbar ist. Eindringlich wird diese vor allem durch die zahlreich integrierten Berichte von Zeitgenossen, die einen mal erschüttert, mal fassungslos zurücklassen. In jedem Fall geben sie Zeugnis von einem perfiden System, das sich hinter den Stacheldrahtverhauen der Konzentrationslager entwickelte. Stets ist der Leser nah dran und lernt die Menschen - egal ob Täter oder Opfer - kennen. Solche wie den SS-Mann Kurt Pannicke, ein attraktiver Mittzwanziger, ganz nach dem rassischen Ideal Hitlers, der seine Machtposition grenzenlos auskostete. Oder Odd Nansen, ein politischer Gefangener im Lager Sachsenhausen, der die Geschichte des zehnjährigen jüdischen Jungen Tommy niederschrieb, der in Auschwitz von seinen Eltern getrennt wurde und auf dem Weg nach Sachsenhausen - solche "Evakuierungen" waren eine Maßnahme der Lager-SS, um den herannahenden Sowjettruppen zu entkommen - unvorstellbares Leid miterlebte.
Gerade durch dieses Einweben persönlicher Sichtweisen umgeht Wachsmann, dass seine Darlegungen vom Leser als allzu abstrakt wahrgenommen werden, was gerade angesichts der Thematik nur allzu gut ist. Denn erst die Eindrücke von Beteiligten und Zeugen machen all das Leid, Unrecht und den ganzen Terror deutlich. Nicht selten bleibt der Leser wie bereits angedeutet verstört zurück und kann gar nicht glauben, dass Menschen anderen Menschen Derartiges antun können.
Bei aller Emotionalität, welche den Band prägt, vergisst Wachsmann den wissenschaftlichen Anspruch nicht. Denn dieser rückt ausgehend von der umfangreich eingearbeiteten Forschungsliteratur so manche gängige Erkenntnis zurecht, wie zum Beispiel die Rolle der Berufsverbrecher. Auch zeigt der umfangreiche Anmerkungsapparat sowie das Quellen- und Literaturverzeichnis, wie intensiv Wachsmann die Thematik erschlossen hat.
FAZIT: Ein eindrucksvoller Band, in dem Nikolaus Wachsmann die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager umfassend, differenziert und vor allem auf eine berührende Art und Weise darlegt. Erschreckend und informativ zugleich!
Weitere Informationen zum Buch sowie eine Leseprobe finden sich auf der Webseite des Verlags.