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Zwischen den zwei Weltkriegen erlebt Lou Villars ihre Jugend und frühen Jahre als Erwachsene. Von den Eltern, die mit dem ungewöhnlichen Mädchen nicht zurechtkommen, in ein Klosterinternat abgeschoben, bleibt sie dort, was sie auch zu Hause war: eine Außenseiterin, kontaktscheu, sich selbst genug. Doch dann entdeckt eine der Nonnen, die selbst in keine Norm passt, Lous unglaubliches sportliches Talent. Sie fördert das Mädchen. Bald kommt ihr Bruder hinzu und trainiert die kraftvolle, zähe Lou in diversen Sportarten - bis hin zum Boxen, in dem sie, durchaus erfolgreich, schließlich gegen Männer antritt. Natürlich in Paris, wo die Menschen für alles Befremdliche zu haben sind.
Parallel zu diesem Handlungsstrang amüsieren sich ein noch ziemlich erfolgloser ungarischer Fotograf und ein ebensolcher amerikanischer Autor in Paris, so weit das ihr schmaler Geldbeutel zulässt. Der Fotograf gibt der verloren wirkenden Lou bei einer Sportveranstaltung die Karte des Chamäleon Clubs, wo Männer in Frauenkleidern und Frauen in Smokings unterwegs sind, und setzt damit eine unglaubliche und dramatische Entwicklung in Gang.
Wäre sie reine Fiktion, so könnte der Leser die erstaunliche Biografie der Lou Villars durchaus für dick aufgetragen halten, doch sie beruht auf Tatsachen: Ein enorm starkes und ausdauerndes Mädchen wird von einem Förderer als Sportlerin entdeckt und trainiert – und natürlich vermarktet. Als Lou die Situation nicht mehr ertragen kann, flüchtet sie sich in den schrill-verwegenen Chamäleon Club, und von dort aus erschließt sich ihr eine schillernde Welt. Lou wird Rennfahrerin und verliebt sich zum ersten Mal: in eine Frau. Dann kollaboriert sie mit den deutschen Besatzern, und über ihr braut sich das Verhängnis zusammen.
Francine Prose gelingt es, den Leser in Lou Villars' Zeit (beziehungsweise jene ihres realen Vorbildes Violette Morris) und Umgebung zu versetzen; kein einfaches Unterfangen, zumal es im Rahmen eines solchen Buchprojekts auch gilt, zu unterstreichen, wie viele Tabus Lou auch in der weltoffenen Stadt Paris brach – ohne der Versuchung zu erliegen, die jeweilige Erzählperspektive zu verlassen und belehrend einzugreifen. Prose lässt solche Hintergrundinformationen aus der Handlung und den vielen stets sehr lebendig und authentisch gestalteten Dialogen sowie den Aufzeichnungen der Hauptfiguren hervorgehen und nutzt auch beispielsweise die Perspektive des Tagebuchs für den ein oder anderen erzählerischen Zweck.
Ihre Protagonistin bleibt den meisten Lesern wohl ein wenig fremd, denn sie ist einfach zu "anders", als dass es für andere leicht wäre, sich in sie hineinzuversetzen. Doch Sympathie erhält Lou vom Leser, und das reichlich. Die Kämpferin, die gegen den Strom schwimmt und sich keiner Konvention beugt, hat in der Darstellung von Francine Prose einen ganz besonderen Charme. Auch entwickelt die Geschichte zunehmend eine Sogwirkung, der sich weder Lou noch der Leser entziehen können. Es fällt daher auch schwer, das Buch vor dem Schluss aus der Hand zu legen. Vor allem der Bruch zwischen dem letzten aus den Zwanzigern herübergeretteten Aufbäumen einer scheinbar grenzenlosen Freiheit und der aufziehenden Katastrophe des Kriegs, der Lou verschlingen wird, lässt den Leser nicht los.
Hierzu tragen auch die unterschiedlichen Blickwinkel bei, aus denen Lous Geschichte geschildert wird – Tsenyi, der ungarische Fotograf, seine künftige Frau und der amerikanische Autor Lionel Maine sind nur einige davon. So entsteht ein dramatisches Mosaik in teils grellen, teils düsteren Farben. Und eine Biografie, die fasziniert und fesselt: Zeit- und Kulturgeschichte zum Anfassen anhand einer Hauptfigur, deren Tragik kaum zu überbieten ist.
Einen Blick ins Buch bietet die Verlagsseite.