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Christoph Marzis fantastischer Roman "Lycidas" war wohl einer der Überraschungserfolge des letzten Jahres und wurde in der Kategorie "Roman-Debüt Deutschsprachig" mit dem "Deutschen Phantastik Preis 2005" ausgezeichnet. Mit "Lilith" legte der Autor nun im November 2005 den zweiten Teil seiner Trilogie um das Waisenmädchen Emily Laing vor.
"Alles wird irgendwann wieder leben." Vier Jahre sind mittlerweile vergangen, seit der Lichtlord diese Worte an Emily Laing gerichtet hat, doch erst jetzt wird dem Waisenmädchen bewusst, was er damit gemeint haben musste. Denn erneut regt sich das Böse in den Tiefen der uralten Metropole, der fantastischen Welt unter den Straßen Londons. Vetala-pancha-Vinshanti, Vampyre, Wiedergänger streifen durch die alten U-Bahn-Tunnel, machen das Leben in der Stadt unter der Stadt unsicher, fallen ihre Bewohner an, lassen diese zu ihresgleichen werden. Ein Name ist es, der besonders für Schrecken sorgt: Kalidurga. Die grausame Mutter der Vampyre, eine uralte Göttin, die nach London gekommen ist, um Rache zu üben. Ein Mann jedoch hat es sich zum Ziel gesetzt, sich Kalidurga entgegenzustellen und ihren Untergang einzuleiten. Ein Mann, der Emilys Mutter entführt hat, um das Mädchen und ihre Freunde zur Zusammenarbeit zu bewegen. Ein Mann, von dem man nicht weiß, welches Ziel er über die Jahrhunderte hinweg wirklich verfolgte. Ein Wiedergänger. Al-Vathek. Die Suche nach einer Möglichkeit, das Böse erneut zurückzudrängen, führt Emily, ihre Freundin Aurora, den Elfen Maurice Micklewhite und den mürrischen Alchemisten Wittgenstein nicht nur in die Tiefen der uralten Metropole, sondern auch weit hinab unter die Métro von Paris. Uralten ägyptischen Göttern und mythischen Wesen begegnen die Gefährten auf ihrer Suche; Göttern und Wesen, deren Absichten meist nicht zu durchschauen sind. Doch die einzige Person, die Kalidurga endgültig vernichten könnte, ist Lilith, die einst die Geliebte des Lichtlords war. Denn mittlerweile liegt die sterbliche Asche Liliths im Sand der Hölle begraben ...
"Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren." So begann die Geschichte, die der deutsche Autor Christoph Marzi seinen Lesern in "Lycidas" erzählte. Diese Worte, die in variierter Form immer wieder auftauchten und durch die Erlebnisse Emily Laings führten, waren ein stets vorhandenes Leitmotiv des umfangreichen Romans und damit kennzeichnend für die Erzählung. Auch "Lilith" fängt mit einer Variation dieses Satzes an und beschwört damit bereits mit den ersten Worten eine Atmosphäre herauf, die den Leser sofort wieder in die uralte Metropole entführt, ihn von der ersten Zeile an erneut in die fantastische Welt der Stadt unter der Stadt eintauchen lässt. Wie bereits bei "Lycidas" gelingt es dem Autor, einem wunderbar stimmig beschriebenen London Leben einzuhauchen und seinem Leser eine atmosphärisch sehr dichte Geschichte zu präsentieren. Gleichzeitig beschränkt sich Christoph Marzi während des Handlungsverlaufs dieses Bandes keineswegs nur auf London, sondern lässt auch die französische Metropole Paris vor den Augen des Lesers auf ebenso magische Weise lebendig werden. Dabei vermag er es, die beiden Städte zwar mit einer gleichsam zauberhaften Atmosphäre zu beschreiben, ihnen jedoch trotzdem völlig unterschiedliche, individuelle Züge zu verleihen, die sich dem Leser auf subtile und kaum greifbare Weise deutlich machen.
"Lycidas" hatte zwei große Schwächen: Zum einen litt das Buch unter der Fülle an Ideen und Einfällen, die zwar fantastisch waren, aber gut und gerne für zwei Romane gereicht hätten, zum anderen war es die rückblickende Erzählweise aus Sicht von Mortimer Wittgenstein, die mit jeder Seite mehr überhand zu nehmen schien und damit oftmals ein frustrierendes Gefühl seitens des Lesers hinterließ. Die Komposition von "Lilith" hingegen weiß hier um einiges besser zu gefallen. Erneut lässt der Autor den mürrischen Alchemisten Wittgenstein erzählen, doch dieses Mal präsentiert sich der Handlungsverlauf chronologischer und kompakter, während die ineinander verschachtelten Rückblicke - die der Leser natürlich nicht gänzlich missen möchte, da sie zum wunderbaren Stil der Erzählung gehören - deutlich seltener werden und damit Spielraum für einen gewaltigen Spannungsbogen lassen, den Christoph Marzi auch geschickt aufrecht zu erhalten weiß. Zudem bieten die Aufzeichnungen Eliza Hollands, die in zwei längeren Abschnitten von ihrem Leben berichtet und damit Verknüpfungen zu den Geschehnissen herstellt, die die uralte Metropole bedrohen, eine willkommene Abwechslung zur Erzählung Wittgensteins. Durch ihre Geradlinigkeit und einen gänzlich anderen, wenn auch ebenfalls aus Sicht der ersten Person geschilderten Stil lockern sie die Geschichte hervorragend auf. Dabei gelingt es dem Autor, die eigentliche Handlung keinen allzu großen Bruch erleben zu lassen, sondern die Spannung mit diesen Unterbrechungen im Gegenteil noch zu steigern.
Obwohl Teil einer Trilogie, zeigt sich "Lilith" - ebenso wie "Lycidas" - als in sich geschlossene Geschichte. Natürlich greift der Autor dabei viele Elemente aus dem Vorgängerroman wieder auf, weshalb man den ersten Band auch vor der Lektüre des vorliegenden Buches gelesen haben sollte, doch entwirft er ansonsten einen völlig neuen Plot, der sich erfreulicherweise nicht als Wiederholung von "Lycidas" herausstellt, sondern einige neue Charaktere einführt und mit herausragenden Ideen aufwartet. Was "Lilith" jedoch mit dem ersten Band der Trilogie gemein hat, das sind die unzähligen Bezüge auf andere Geschichten, Mythen, Legenden und Überlieferungen, die Christoph Marzi geschickt aufgreift und den Bedürfnissen seiner eigenen Erzählung anpasst, sie hervorragend durch neue Aspekte miteinander verknüpft und in die Geschichte einfließen lässt. Dabei legt der Autor seinen Schwerpunkt während des vorliegenden Bandes auf den Mythos Vampyr sowie die altägyptische Götter- und Mythenwelt. Wer sich ein wenig für die beiden letztgenannten Bereiche der Fantastik interessiert, wird die Lektüre von "Lilith" umso mehr genießen und mit Begeisterung verfolgen können, wie sich all die einzelnen, oftmals altbekannten Elemente zu einem neuen, faszinierenden Gesamtwerk zusammensetzen.
Für die künstlerische Gestaltung des Buches zeigt sich - wie auch schon bei Christoph Marzis Debüt-Roman - Dirk Schulz verantwortlich, der nicht nur die Innenseite der Klappenbroschur erneut mit einer wunderschön gezeichneten Karte verziert hat - dieses Mal von Paris -, sondern dem auch ein wunderbar stimmiges Covermotiv gelungen ist, das sich noch gelungener präsentiert als das von "Lycidas" und durch den großen Mond im Hintergrund zudem auf die Zusammengehörigkeit der beiden Romane verweist. Somit passt "Lilith" optisch hervorragend zu "Lycidas" und bildet mit diesem Buch eine ansehnliche Einheit im Regal. Dabei sieht der zweite Band der Trilogie auf den ersten Blick beinahe genauso massiv aus wie dessen Vorgängerroman - doch dieser Eindruck täuscht. "Lilith" umfasst nicht nur gut 200 Seiten weniger als "Lycidas", sondern wurde zudem noch sehr viel großzügiger gedruckt. Während "Lycidas" eng- und kleinbedruckte Seiten sein Eigen nennen konnte, so gab man sich beim vorliegenden Buch sichtlich Mühe, ihm durch eine größere Schrift, platzverbrauchendere Kapitelanfänge und dickeres Papier mehr Volumen zu geben, wodurch der Roman tatsächlich fast genauso dick ist wie der erste Band. Dies hat jedoch keinesfalls eine negative Wirkung - im Gegenteil: Diese Aufmachung gibt nicht nur optisch einiges her, sondern sorgt auch für einen angenehmen und raschen Lesefluss. Negativ anzukreiden und ärgerlich sind lediglich die unnötig vielen Buchstabendreher und Tippfehler, die sich beim Setzen des Romans eingeschlichen haben und nicht korrigiert wurden.
Fazit:
Christoph Marzi setzt seine Trilogie um das Waisenmädchen Emily Laing und die uralte Metropole von London mit "Lilith" gekonnt und spannend fort, legt sogar einen Roman vor, der den ersten Band, "Lycidas", noch übertrifft. Die Geschichte erscheint sehr viel geradliniger und lässt sich angenehmer lesen, ist aber gleichzeitig erfreulicherweise keine Wiederholung der Ereignisse des ersten Bandes. Stattdessen präsentiert der Autor neue fantastische Ideen und zeigt sein Können, auf Legenden, Mythen und andere literarische Werke zurückzugreifen und diese zu einem faszinierenden Handlungsverlauf zu verweben, der den Leser zu fesseln weiß. Ein rundum gelungenes Werk also, das auch optisch von seiner Qualität überzeugen kann.
Hinweis:
Christoph Marzi arbeitet derzeit am dritten Band der Trilogie um die uralte Metropole, der - zieht man die Erscheinungsdaten der ersten beiden Bände in Betracht - hoffentlich im Dezember 2006 erscheinen wird. Im Journal auf seiner Homepage (www.christophmarzi.de) lässt der Autor seine Leser unter anderem an der Entstehung dieses Romans, der den Arbeitstitel "Wittgenstein" trägt, teilhaben.
Nachtrag:
In seinem Journal hat Christoph Marzi am 15.04.06 bekanntgegeben, dass der dritte Band um Emily Laing den Titel "Lumen" tragen wird und im Oktober 2006 erscheinen soll.