Nathaniel ist vierzehn Jahre alt und seine Schwester Rachel nur wenig älter, als ihre Eltern beide vor vollendete Tatsachen stellen: Sie - nur die Eltern - werden für längere Zeit aus England fort nach Fernost ziehen, wohin der Vater von seinem Arbeitgeber geschickt wurde. Währenddessen wird sich ein Freund während der Ferien um die Kinder kümmern, die Internate besuchen.
Als wäre dies nicht verstörend genug, finden Nathaniel und Rachel bald heraus, dass ihre Mutter offensichtlich keineswegs dem Vater gefolgt ist, sondern ihren eigenen Weg geht, wo auch immer. Dieser Verrat durch die Mutter erschüttert die beiden Jugendlichen tief, zumal unmittelbar nach dem traumatisierenden Krieg. Denn die Handlung des Romans setzt 1945 ein.

Dubiose Menschen bevölkern nun in wechselnder Besetzung das Haus der zerbrochenen Familie und beziehen die elternlosen Geschwister in ihre zunächst kaum nachvollziehbaren Machenschaften ein. Nathaniel sucht und findet einen gewissen Halt bei einem von ihnen. Erst viele Jahre später und nach aufwendigen Recherchen wird er entdecken, dass die Mutter auf ihre eigene Weise immer über ihn und Rachel gewacht hat.

Zwei Jugendliche, von den Eltern - insbesondere der Mutter - verlassen, sehen hilflos zu, wie sich das Heim des Konstrukts, das sie einmal als ihre Familie kannten, mit obskuren Personen füllt, die kommen und gehen und ihnen sonderbare Aufgaben zuweisen, die alles andere als legal wirken.
Anderthalb Jahrzehnte später blickt Nathaniel zurück auf die Ereignisse von 1945 und den sich anschließenden Jahren und versucht zu ergründen, was damals mit ihm und seiner Schwester Rachel geschah. Die wieder aufgetauchte Mutter erweist sich als wenig hilfreich, und erst nach ihrem Tod wird ein guter Teil ihrer Geschichte und ihres Handelns transparent für ihn. Ihr Leben als Spionin im heißen wie im Kalten Krieg, verbunden mit einer großen Liebe, die nicht seinem Vater galt, erschließt sich ihm nur langsam.

Mit "Kriegslicht" hat Michael Ondaatje, den im deutschsprachigen Raum sein vielfach ausgezeichneter Roman "Der englische Patient" bekannt machte, ein weiteres Werk mit dem Zweiten Weltkrieg als Hintergrund präsentiert. Vielschichtig und komplex angelegt, erscheint es auf den ersten Blick als Spionage-Thriller, und erst später offenbart sich das Genre, dem es eigentlich angehört: der Entwicklungs- oder eher "Coming of Age"-Roman. Nathaniel und Rachel haben das Grauen der nächtlichen Bombenangriffe auf London - daher der Titel - überlebt und sind nun dem Gefühl eines totalen Verrats durch die Eltern ausgesetzt. Das Thema "Verrat" zieht sich ohnehin durch den Roman.
Ondaatje stellt den Geschwistern ausgesprochen schräge Charaktere gegenüber, deren Bedeutung für sein Leben Nathaniel, wie so vieles andere, erst im Nachhinein ermessen kann. Mit ihm und Rachel erlebt der Hörer die verblüffendsten Abenteuer, strandet an absonderlichen Orten und taumelt durch die Jahre, bis allmählich, auch dank der Rückkehr der Mutter, zumindest für Nathaniel eine Art Konsolidierung eintritt.

Aufgrund der zahlreichen verschiedenen zeitlichen Ebenen und Personen dürfte schon die Print-Ausgabe eine Herausforderung darstellen. Das Hörbuch, das ein gezieltes Zurückblättern wesentlich weniger gut zulässt, macht es noch schwieriger, alle Wendungen und Kapriolen dieses raffinierten Werks nachzuvollziehen. Ein "Nebenher-Hören" ist schlechterdings unmöglich. Sprecher Frank Stieren setzt die komplexe Vorlage freilich gekonnt um, indem er sich gut in die Charaktere einfindet und die spannende Geschichte sehr lebendig, dabei sensibel erzählt.
Ein starkes, anspruchsvolles Hörbuch für jene, die sich darauf einlassen können und möchten!

Eine Hörprobe wird auf der Verlagsseite angeboten.