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Einige Jahre lang hat Isma nach dem Tod ihrer Mutter ihre etliche Jahre jüngeren Geschwister, die Zwillinge Aneeka und Parvaiz, in einem einfachen Londoner Viertel erzogen. Der ohnehin stets abwesende Vater, ein Dschihadist, war bereits zuvor nach seiner Gefangennahme ums Leben gekommen.
Nun sind die Zwillinge neunzehn Jahre alt, und Isma kann dank ihrer früheren Mentorin und einem Stipendium ihr Studium in den USA wieder aufnehmen. Fast verpasst sie ihren Flug, da sie einer sehr genauen Kontrolle unterzogen wird. Schließlich war nicht nur ihr Vater ein bekannter Islamist, sondern mittlerweile ist Parvaiz nach Syrien ausgereist, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen.
In den USA lernt Isma Eamonn kennen, wie sie ein Londoner mit pakistanischen Wurzeln. Über Isma kommt Eamonn nach seiner Rückkehr nach London mit Aneeka in Kontakt und verliebt sich in Ismas wunderschöne Schwester. Er weiß nicht, dass Aneeka seine Avancen zunächst nur erwidert, weil sie sich erhofft, dass er mittels seines einflussreichen Vaters ihrem Zwillingsbruder Parvaiz, der mittlerweile sein Engagement für den IS als riesigen Fehler erkennt, die Wiedereinreise nach England ermöglichen kann.
Mit einem Dschihadisten als Vater und einem IS-Kämpfer als Bruder haben die Londonerinnen Isma und Aneeka, deren Eltern aus Pakistan stammen, keinen leichten Stand. Während sich Isma vom Bruder abwendet, versucht Aneeka alles, um Parvaiz zu retten. Er ist ihr Zwillingsbruder, mit dem sie schon immer extrem eng verbunden war. Also lässt sie sich sogar mit Eamonn ein, dem Sohn des britischen Innenministers, der ebenfalls pakistanische Wurzeln hat. Doch dann geschieht das Unerwartete: Aneeka verliebt sich in Eamonn. Trotzdem setzt sie ihn auf seinen Vater an. Dieser gerät in einen riesigen Konflikt, denn als Migrant und Emporkömmling in einer solch exponierten Position muss er britischer sein als jeder alteingesessene Brite – und irgendwie ist er es auch.
Ganz in der Art einer antiken Tragödie lässt Kamila Shamsie, Britin mit – wie könnte es angesichts des Romanthemas anders sein – pakistanischen Wurzeln, ihre Protagonisten durch die Hölle gehen. Und ja, der Roman "kopiert" in der Tat ein griechisches Drama: Sophokles' "Antigone". Unschwer lässt sich schon von Ismas Name ihre Rolle als Ismene ableiten, der Schwester der Antigone – Aneeka -, die dem repressiven König Kreon trotzt, indem sie für ihren Bruder Polyneikes, der gegen die Heimatstadt einen Krieg geführt hat, eine den religiösen Vorschriften entsprechende Bestattung wünscht, die einem Verräter jedoch nicht zustehen.
Parvaiz ist unschwer als Polyneikes zu identifizieren, Eamonn als Kreons Sohn Haimon und der Innenminister selbst natürlich als Kreon. Nun hat Kamila Shamsie freilich kein Theaterstück verfasst, obwohl der Stoff dies durchaus zuließe, sondern einen Roman. Statt aus Kapiteln besteht dieser aus Einheiten, die jeweils aus der Perspektive eines der Protagonisten erzählt werden. So kann und muss der Leser in die Haut jedes wichtigen Charakters schlüpfen, einschließlich Parvaiz'. Dieser hat sich, einen Vater von klein auf vermissend und perspektivlos von Job zu Job dümpelnd, durch dessen Hochstilisierung als Märtyrer und Helden von einem professionellen Anwerber für den IS gewinnen lassen und bereut seine Entscheidung sehr rasch. Das mag arg apologetisch erscheinen, dürfte es doch nur für eine verschwindende Minderheit an IS-Kämpfern zutreffen.
Verschiedene weitere Aspekte werden vermutlich von verschiedenen Lesern unterschiedlich aufgenommen, etwa die Art, wie die einzelnen Protagonisten, alle mit Migrationshintergrund, ihr Leben gestalten, zum Beispiel hinsichtlich der Religion. Die Autorin vermag es, aufzuzeigen, wie schwierig es für Zugewanderte auch in der zweiten Generation ist, ihren Platz in der Gesellschaft, vielleicht auch in einer der sogenannten Parallelgesellschaften, zu finden und gegebenenfalls zu behaupten. Was irgendwie fehlt: ein Eingehen auf die Probleme, die sich der etablierten Bevölkerung des aufnehmenden Landes stellen – diese, repräsentiert von den Massenmedien, reagiert bei Shamsie kollektiv, undifferenziert, sensationsgeil und pauschal ablehnend-aggressiv; Sippenhaft gehört selbstverständlich auch dazu. In wieweit das auf heutige westeuropäische Gesellschaften so tatsächlich zutrifft, mag dahingestellt sein. Dass in Migrantenfamilien derartige Konflikte auftreten, wird freilich kaum jemand bestreiten, ebenso wenig wie die Tatsache, dass diese sich auf ein Land als Ganzes auswirken.
Ein lesens- und sehr diskussionswürdiger Roman zu einem sensiblen Thema. Der Griff der Autorin nach Sophokles wirkt keineswegs vermessen.
Eine Leseprobe gibt es auf der Verlagsseite.