Im Winter 2012/2013 hat der türkische Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk vom Balkon seiner Wohnung aus 8.500 Fotos gemacht. Pamuk lebt in Istanbul mit Blick auf den Bosporus.
Im bei Steidl erschienenen Band "Balkon" ist ein gutes Achtel dieser Fotos versammelt, vom Fotografen selbst ausgewählt, die Pamuks Eindrücke und Aussichten des erwähnten Winters wiedergeben. Und nicht nur diese, wie der Fotograf Pamuk verrät. Denn er selbst befand sich damals in einer besonderen Stimmung.

Es muss eine Art Besessenheit gewesen sein, die den wohl bekanntesten zeitgenössischen türkischen Autor zwischen Dezember 2012 und April 2013 umgetrieben hat, jedenfalls beschreibt er es so, und die beachtliche Zahl von achteinhalbtausend in diesem Zeitraum "geschossenen" Fotos belegt dies eindrucksvoll. Für das Buch musste Pamuk eine Auswahl unter seinen Bildern treffen, was ihm nicht leicht fiel.

Im 16-seitigen Vorwort schildert Pamuk, wie es zu der Vielzahl an Fotos kam, mit welcher Motivation er täglich und auch nachts – er hatte sich neben einer Vollformatkamera und einem ordentlichen Objektiv ein Stativ zugelegt – viele Male auf seinen Balkon trat, um Teile der ihm vertrauten Aussicht festzuhalten, und welche Stimmung ihn selbst in jenem Winter beherrschte. Um die Aufnahmen zu verstehen, sollte der Betrachter sich das Vorwort unbedingt gönnen; es ist, wie es Leser des Autors erwarten würden, kurzweilig und doch voller Tiefe. Und natürlich trägt es zum Verstehen und Einordnen der Bilder enorm bei.
Sein Balkon erlaubt Orhan Pamuk einen einzigartigen Blick auf den Bosporus mit dem Marmarameer, mehreren Moscheen, dem Topkapı-Palast und vielen anderen mehr oder weniger bekannten Bauten. Es gibt jede Menge Frachter, Kreuz- und Militärschiffe, Hafen- und Industrieanlagen und nicht zuletzt Vögel, wie der Fotograf selbst anmerkt.

Von den 8.500 im erwähnten Zeitraum entstandenen Fotos hat Pamuk nun also 568 dieser Fotos ausgewählt (laut Vorwort; der Verlag gibt 467 Abbildungen an), die unterschiedliche Licht- und Wolkenstimmungen oder, tageszeitabhängig, Farbtönungen zu ebenfalls verschiedenen, doch in Variationen oder unmittelbar wiederkehrenden Motiven enthalten. Kleine Veränderungen des Standorts auf dem Balkon oder des ausgesuchten Bildausschnitts ergeben oft erstaunliche Effekte, ebenso das Vorhandensein, Fallen oder Fehlen von Schnee. Oder eben einzelne oder in Scharen auftretende Vögel.
Klassische "Ansichtskarten" mit viel Orange und Rot finden sich ziemlich selten in der Sammlung, die von Grautönen und allenfalls Rosa dominiert wird. Es geht Pamuk um die wintertypischen Stimmungen vor Ort und, wie erwähnt, um die eigene zu jener Zeit. Verwandte Bilder werden einander gegenübergestellt oder teilen sich eine Seite, und auch die Zusammenstellung sorgt für jeweils eine spezifische Aussage. Ein sich verändernder Lichtstreif auf dem Wasser, ein scheinbar vor dem Betrachter vorüberfahrendes, im rechten Winkel schwarzen Qualm hinter sich her ziehendes Schiff, auf und ab wogender Nebel, fast geisterhaft bei Nacht auftauchende Frachter: regelrechtes Kino gegenüber den ebenfalls reichlich vorhandenen Aufnahmen, die als Solitäre einen besonderen Moment festhalten. Der Schriftsteller zeigt, dass er auch die Sprache der Bilder exzellent beherrscht, denn diese Fotos hätte ein beliebiger Laie, mit hochwertiger Ausrüstung ausgestattet, nicht ohne Weiteres anfertigen können.

Wohl bewusst wurde ein Papier mit einer feinen Struktur verwendet, das den Fotografien den Eindruck der in analoger Zeit gern als Stilmittel eingesetzten Körnung verleiht. Die Originale dürften dank dem Einsatz einer Vollformatkamera und eines Stativs kaum Rauschen (das digitale Analogon zur Körnung) aufweisen. Ob der Effekt durch das Papier gefällt, unterliegt dem subjektiven Empfinden des Betrachters. Definitiv überzeugt die gesamte hochwertige und Aufmachung. Dies beginnt schon mit dem schlicht-schönen Leinen-Einband, in den das Titelfoto vertieft eingelassen ist: haptisch und visuell ein Genuss.

Ein starkes Buch, das keineswegs zum Eben-mal-Durchblättern gemacht wurde und das auch nicht zulässt. Es richtet sich nicht nur an Fans des Schriftstellers Pamuk, sondern auch an Istanbul-Freunde und alle, die hochwertige Fotografien nicht zuletzt in ihrer Funktion als Denkanstöße mögen.

Ein Blick ins Buch wird mittels einer "Slide" auf der Verlagsseite angeboten.