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Obwohl sein Erlebnis äußerst unglaubwürdig klingt, muss Nathaniel Hilfe suchen. Der seit seinem elften Lebensjahr blinde junge Mann hat eine App genutzt, über die Sehende Blinden per Videochat im Alltag Hilfestellung leisten, etwa, indem sie ihnen die Farbe eines Kleidungsstücks nennen oder das Verfallsdatum von Lebensmitteln von Verpackungen ablesen. Als Nathaniel seine Helferin fragte, welches seiner drei Hemden das blaukarierte sei, hörte er, wie sie jemand anderen empört ansprach, dann aufschrie und stürzte. Danach riss die Verbindung ab. Nathaniel zweifelt nicht daran, dass er Zeuge eines Unfalls oder eher sogar eines Verbrechens geworden ist.
Schließlich setzt er die Fernsehjournalistin Milla Nova auf die Sache an, mit der ihn eine lose Freundschaft verbindet, seit sie eine Reportage mit ihm über die besagte App gemacht hat. Milla recherchiert eigentlich in einer ganz anderen Angelegenheit, tut dem verzweifelten Nathaniel aber schließlich den Gefallen.
Und je tiefer sie in den Fall - falls es sich überhaupt um einen solchen handelt - eintaucht, desto komplexer und verwirrender stellt er sich dar.
Am Telefon mitanzuhören, wie eine Frau offensichtlich angegriffen und niedergeschlagen wird, und nicht unmittelbar handeln zu können, belastet den blinden Nathaniel sehr. Sein Wunsch, zu helfen, bringt die Journalistin Milla Nova und ihren Freund, einen Polizisten in leitender Stellung, in einige Schwierigkeiten, da die Interessen der beiden trotz des Ziels, aufzuklären, einander (nicht zum ersten Mal in ihrer Beziehung) oft diametral gegenüberstehen. So kommt es bisweilen in Ermangelung von Synergieeffekten zu unguten Überraschungen, während sich immer deutlicher zeigt, dass Nathaniel recht hatte und sich alle Beteiligten in einem Wettlauf mit der Zeit befinden. Doch auch Nathaniel ist, wie sich zwischenzeitlich herausstellt, kein gänzlich unbeschriebenes Blatt.
In ihrem ersten Kriminalroman greift Christine Brand, selbst Journalistin, eine wirklich pfiffige Idee auf und lässt anschließend drei Personen mehr oder weniger unabhängig voneinander ermitteln – Nathaniel selbst, Milla und ihren Polizistenfreund. Auch wenn manches vorhersehbar ist, gelingt es der Autorin, einen gut konzipierten Plot zu präsentieren.
Doch nicht alles begeistert. Atemlose Spannung ist etwas anderes als jene in "Blind", wo die Handlung doch über weite Strecken vor sich hin dümpelt. Kommissar Zufall tritt ein wenig oft in Erscheinung, etwa, wenn in absehbar gefährlichen Situationen ein Protagonist sein Handy zu Hause vergisst und der Handyakku des anderen im entscheidenden Moment den Geist aufgibt. Die überwiegend gewählte Perspektive des allwissenden Erzählers verhindert ebenso wie die nicht sonderlich intensive Zeichnung der Charaktere ein intensives "Mitgehen" des Lesers. Unnötige Perspektivwechsel schaden dabei des Öfteren, etwa wenn die Autorin einen Raum beschreibt, den der Blinde betritt, Farben inklusive, und die Anmerkung folgt, er könne dies jedoch nicht sehen. Das dürfte selbst ein unterdurchschnittlich mit Intelligenz gesegneter Leser bereits kapiert haben – und er wird sich aufgrund solcher Perspektivwechsel kaum in Nathaniel einfinden und eben "mitgehen". Die dadurch geschaffene Distanz zu den Charakteren tut dem Buch nicht gut. Und am Ende bleiben auch ein paar Fragen offen.
Insgesamt also eine Idee mit viel Potenzial, doch nicht durchweg überzeugender Umsetzung. Da gibt es noch Luft nach oben, und es wäre schön, wenn diese in Milla Novas nächster Ermittlung genutzt würde.
Eine Leseprobe wird auf der Verlagsseite angeboten.